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Kläger auf der Anklagebank

 
     
 
Gewöhnlich ist Walter Jens ein wortgewaltiger Mann, der auf jede Frage eine schlagende Antwort weiß und diese auch von anderen einfordert. Doch als neulich in der NDR-Talkshow die Rede auf seine mutmaßliche Mitgliedschaft in der NSDAP kam, da nuschelte er etwas von Goethe, mit dem er es jetzt halten wolle, von breitgetretenem Quark und von der Schwierigkeit, sich in den hineinzuversetzen, der man vor 60 Jahren war. Er hatte ja recht, und trotzdem empfand man die Antwort als unbefriedigend. Das hatte weniger mit seinem - mutmaßlichen - Parteibeitritt zu tun, sondern mit der öffentlichen Person, die seinen Namen trägt und an der er über Jahrzehnte wie an einem Denkmal gebaut hat. Alles ist möglich, auch seine automatische Übernahme
in die NSDAP, wie sie in anderen Fällen ebenfalls erfolgt ist. 

Die Tatsache allerdings, daß in seiner Akte eine Ummeldung von Hamburg nach Freiburg vermerkt ist, die nur er selber veranlaßt haben kann, verweist darauf, daß der Vorgang ihm zumindestens bewußt gewesen ist. Inzwischen hält er es selber für möglich, damals "einen Wisch" unterzeichnet zu haben. War-um auch nicht! Weder in der Diktatur noch in der Demokratie lassen Biographien sich in Schwarz und Weiß einteilen, und schon gar nicht läßt sich diese Einteilung an einer einzigen Unterschrift oder Mitgliedskarte festmachen. Die aktuelle Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit zeigt, daß das Leben aus unendlich vielen Grautönen besteht. Auch für einen SED-Beitritt sind die unterschiedlichsten Gründe - darunter sehr ehrenwerte - denkbar. Idealismus etwa und der Wille, nach 1945 eine bessere Zukunft aufzubauen, hatte damals vor allem junge Menschen zu diesem Schritt bewogen. Später, als Idealismus und Aufbauwille sich als fehlgeleitet herausgestellt hatten, kamen andere zu der Überzeugung, die DDR müsse und könne durch innere Reformen verändert werden und dazu sei ein Marsch durch ihre Institutionen nötig. Vielleicht wollte man auch durch eine Mitgliedschaft Gefahren und Belastungen von sich abwenden oder Vorteile ("Privilegien") erlangen, die unter normalen Umständen selbstverständliche Rechte gewesen wären. 

Zum Beispiel, um eine den eigenen Fähigkeiten angemessene berufliche Position zu erlangen. Die Parteimitgliedschaft konnte tatsächlich die Tür zu einer Karriere öffnen. Warum sollte man da den Märtyrer spielen und damit automatisch anderen, weniger Begabten, gestatten, sich als Vorgesetzte aufzuspielen? Gewiß, im Rückblick klingen solche Erklärungen wenig heldenhaft, aber verhält man sich heute denn anders? Weiterhin gab es Überzeugungstäter, Fanatiker, Karrieristen der übelsten Art, doch auch in diesen Fällen sind die individuellen Schattierungen zu beachten. Walter Jens ist nicht der einzige bekannte Germanist, dem man jetzt die Parteimitgliedschaft vorwirft. Auch Walter Höllerer und Peter Wapnewski, die wie Jens dem Jahrgang 1922/23 angehören, wurden genannt. Als sie - wahrscheinlich - der NSDAP beitraten, waren sie 18 oder 19 Jahre alt. Höllerer hatte als Zehnjähriger in einem Schulaufsatz geschrieben: "Viele Sprachen will ich lernen und viele Abenteuer mit fremden Menschen erleben." 

Das sind Zukunfts-träume, die begabte Kinder zu allen Zeiten hegen. Höllerer, Jens und Wapnewski hatten das Unglück, in eine Zeit hineinzuwachsen, die ihre Wünsche ignorierte und pervertierte. Peter Wapnewski hat in der Zeit beschrieben, wie im Dritten Reich persönliche Entscheidungen zum "Produkt ... fremdbestimmter Ereignisse" wurden. 1942, als ihr Eintritt wohl erfolgte, schien das Regime noch unbesiegbar zu sein. Nicolaus Sombart hat berichtet, daß junge Osteuropa-Experten, die durchaus keine Nazis waren, in die SS eintraten, um innerhalb dieser vermeintlichen Eliteorganisation auf eine Änderung der slawenfeindlichen Politik hinzuwirken. Sogar Willy Brandt, ein Emigrant, ermunterte ehemalige NSDAP-Mitglieder zur Mitarbeit in seinem Stab, weil er wußte, daß eine nominelle Parteimitgliedschaft nicht gleichbedeutend war mit Nazi-Gesinnung. Die Frage lautet, ob und in welcher Weise man sich menschlich bewährt hat. Wenn Walter Jens jetzt eine bestimmte Häme trifft, dann liegt das an seinem Kokettieren als "linker Republikaner" und "Radikaldemokrat", der "von Anfang an nach 1945 ... für das andere, das bessere, das demokratische Deutschland" gesprochen hat. Aus solchen Formulierungen mußte man schließen, daß er schon vor 1945 - klammheimlich natürlich - diesem "besseren" Deutschland angehört hatte. Jens war einer der einflußreichsten Intellektuellen, der im Gestus moralischer Überlegenheit stets und ständig die Vergangenheitsbewältigung anmahnte. Er las Phi-lipp Jenninger wegen dessen - angeblich mißverständlicher - Rede vom 8. Novmeber 1988 die Leviten - heute ist klar, daß Jenninger recht und Jens unrecht hatte. 

Er machte Front gegen Ernst Nolte, den alten Ernst Jünger, gegen den Deutschen Fußballbund, gegen die Wehrmacht, von der er selber, weil asthmakrank, verschont geblieben war. Jens gehört zu den wenigen Überlebenden seiner Generation. Man könnte fragen, ob diese Tatsache nicht einen verborgenen Komplex für ihn bedeutet, der sich in seiner ausufernden Beredsamkeit entladen hat. Oft haben Überlebende einer Katastrophe ein - sachlich völlig unbegründetes - Schuldgefühl gegenüber ihren toten Schicksalsgefährten. 

Um Furor, Geisteshaltung und Anspruch des Tübinger Rhetorikprofessors zu verdeutlichen, sei kurz aus seiner Rede zum 50. Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zitiert, die er als ein Freudenfeuer der konservativen Intelligenz anprangerte. Zum Schluß heißt es: "Wir leben in einem Land, in dem man Schriftsteller - zum zweiten Mal! - mit Ungeziefer verglichen ... hat, wo - einerlei, ob aus Ingoranz oder skrupelloser Wiederholung von Totschlagvokabeln - das Wort ,Entartung erneut die Runde macht. ... Wir leben in einem Land, in dem, wie in den 20er Jahren, von seiten der Konservativen danach gerufen wird, daß endlich wieder alte deutsche Tugenden, Fleiß und Treue, Arbeitswilligkeit und Disziplin, Vaterlandsliebe ins Spiel gebracht werden sollen: Da wird es hohe Zeit, daß gerade die Schriftsteller, die Partisanen der Besiegten und Opfer, die sich selbst aufgeben, wenn sie zu Spießgesellen der Macht werden - da wird es Zeit für die Erinnerungshüter, die Politiker daran zu erinnern ..." Aus den Sätzen ergibt sich weder ein historischer Erkenntnisgewinn noch eine realistische Einschätzung der Kohl-Ära. 

Die Rhetorik ist völlig übersteigert, sie zeugt von Selbstüberhöhung, Maßlosigkeit und Hysterie. Diese Hysterie ist aber zum Grundelement der Diskussion über die deutsche Vergangenheit geworden. Anstatt sie zurückzudrängen und mit seinen Erfahrungen, Talenten und Möglichkeiten zu einer öffentlichen Atmosphäre beizutragen, in der sich über die Lebenswirklichkeit im Dritten Reich differenziert reden ließe, hat Walter Jens sie noch ausdrücklich geschürt. Hier liegt seine Schuld. In zivilisierten Ländern ist es üblich, daß der Feststellung von Schuld - falls sie denn vorliegt - Sühne und Reue folgen und die Betreffenden dann wieder als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gelten.

 In Deutschland aber findet eine Dauerbewältigung statt, die den Betreffenden keine Möglichkeit der Entgegenung und Erklärung läßt, bei der die Stigmatisierung und öffentliche Hinrichtung von vornherein feststeht: Eine unhaltbare Situation, die jetzt sogar Walter Jens sprachlos macht. Fast möchte man sagen: Endlich! In seinem Vortrag "Von deutscher Rede" von 1965 hat er einen klugen Gedanken geäußert: "Untertanenstaat und freies Wort verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser, denn wo Gewalt herrscht, braucht der Rhetor sich keine Mühe zu machen, die Hörer mit kunst-reicher Suada auf seine Seite zu bringen; er kann es einfacher haben; der Säbel ersetzt das Argument und den Beweis." Er hat den Säbel selber gebastelt, mit dem jetzt auf ihn eingedroschen wird! T. H. 

Angeprangert: Walter Jens hier mit seiner Frau bei der Corine-Buchpreisverleihung 2003
 
     
     
 
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