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Korruption und Opferkomplex

 
     
 
Ganze 500 Jahre Aufbruch, 500 Jahre Enttäuschung, ein ewiger Patient der Weltgeschichte?", lautet die Schlüsselfrage eines Subkontinents, der heute im Windschatten europäischer Aufmerksamkeit steht.

Quer durch Lateinamerika, von Ecuador bis Uruguay, reisten die Journalisten Kucklick und Pillitz und schrieben darüber ein faszinierendes Buch. Nicht nur zahlreiche Fotos, die Regenwälder, Küstensäume, halsbrecherische Gebirgsstraßen, riesige Städte und exotische Flußlandschaften zeigen, lohnen die Lektüre. Dank einer gelungenen "Mischung aus Zielstrebigkeit und Offenheit für das Unerwartete" erfassen die Autoren das Leben verschiedenster Gruppen.

Manche Südamerikaner leben fast wie in der Steinzeit. An der Mangrovenküste von Ecuador sammeln Indianer
Muscheln als einzige Nahrungsgrundlage. Gleichzeitig flimmern in den Barackensiedlungen der Armenghettos unzählige Fernseher. Nordamerikanische Seifenopern gaukeln Traumwelten vor. In den letzten Jahren kollabierten viele lateinamerikanische Staaten wirtschaftlich "mit dramatischer Wucht". Statt die Not vor Ort zu bekämpfen, wollen viele Südamerikaner in das vermeintlich reiche Europa auswandern.

Während einer schaukeligen Busfahrt in den Kordilleren bemerkt Kucklick, daß ihn eine Ecuadorianerin fixiert. "Gringo, willst Du mich heiraten? - Warum sollte ich? - Dann kann ich nach Deutschland. - Aber wir kennen uns doch gar nicht. - Egal, Hauptsache Deutschland."

Obwohl die Natur Südamerika reich beschenkt hat, gelang es bisher nicht, das Elend zu beseitigen. "Niemals werden wir glücklich sein, niemals", klagte schon Simon Bolivar, der Befreier Südamerikas vom spanischen Kolonialjoch. Korrupte Regierungen bestehlen das eigene Land; unproduktive Reiche vergnügen sich in Stierkampfarenen und schlürfen Austern. Dünn sind die Mittelschichten, unterdrückt fast alle Indianer. Eine abgestumpfte Mehrheit sucht die Schuld stets bei anderen. Weltbank, Gringos, Washington, die Globalisierung werden als vermeintliche Quellen des Übels dingfest gemacht. Südamerika leide an einem "Opferkomplex", der manisch-depressive Zyklen hervorrufe. Hektische Versuche, das Los der Menschen kurzfristig zu bessern, habe regelmäßig harte Enttäuschungen verursacht.

Kucklick weiß, daß die heutige "Machtstruktur" südamerikanischer Länder seit der spanischen Eroberung existiert. Damals triumphierte die Mentalität der Ausplünderung, Korruption und bürokratisch-autoritärer Herrschaft. Hohe ethnische und soziale Barrieren zerklüften noch immer die Bevölkerung. Nicht westliche Industriestaaten, die schon wegen ihrer Exporte keineswegs daran interessiert sein können, daß Lateinamerika in Armut abgleitet, verschulden erstrangig die Misere. Naive "Dritte Welt"-Romantik hilft niemandem.

Peru hält vermutlich den traurigen Rekord in Sachen Korruption. Richter beispielsweise empfehlen ungeniert Viehdieben, "beim nächsten Mal nicht vier, sondern 20 Kühe zu klauen, damit sie die Gesetzeshüter angemessener bestechen können". Immerhin gelingt es manchen Nachkommen der Inkas, ihre soziale Position allmählich zu verbessern.

Phantastische Naturaufnahmen, teilweise vom Flugzeug aus gemacht, ergänzen die informativen Texte des Buches. An Bord eines verschlissenen Blechkahns befahren die beiden Journalisten den Amazonas, jenen majestätischen Strom, der tiefe brasilianische Urwälder zerschneidet. Dort entdecken sie "kaum Leben. Mal ein Floß, auf dem eine Familie dahinreist, mal ein Siedlerdorf voll Kinder mit aufgeschwemmten Bäuchen".

Das Schick-sal der Dschungelstadt Manaus charakterisiert lateinamerikanische Verhältnisse. Während der Ära des Kautschukbooms scheffelte eine kleine Gruppe märchenhaften Gewinn, der jedoch nicht produktiv investiert, sondern vergeudet wurde, etwa indem man ein sinnlos teures Fitzcarraldo-Opernhaus baute. Abrupt endete die Kautschuk-Konjunktur und Manaus verarmte. Heute versuchen die Einwohner, den Regenwald stärker zu nutzen, der rasant schrumpft.

Ähnlich kritisch gestaltet sich die Lage in Argentinien. Der Mittelstand verlor sein Geld; reiche Oberschichten zehren von ausländischen Konten. Wiederum hat "südamerikanische Alchemie natürliche Reichtümer in soziales Elend verwandelt".

Dann folgt Uruguay, das immer noch als Felsen der Stabilität gilt, aber in Erstarrung verfallen sei. In Punta del Este, nahe der Mündung des Rio de la Plata (Silberfluß), wo gelangweilte Millionäre mit Paraglidern über mondäne Badestrände fliegen, endet die Reise. Es bleibt die Hoffnung, daß Südamerika "Mut aus Verzweiflung, Energie aus Erschütterung" schöpfen kann. Rolf Helfert

Christopher Kucklick, Christopher Pillitz: "Das Schweigen am Silberfluß. Abenteuer zwischen Anden und Atlantik", Geo, Hamburg 2003, 248 Seiten, 49 Euro
 
     
     
 
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