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Das jüngste Mitglied der Zentrale hatte im Laufe seiner Betriebszugehörigkeit schon zahlreiche Berichte über Königsberg zu lesen und zu hören bekommen, und das für die Zeitung bearbeitete historische Bildmaterial hatte die Stadt vor dem inneren Auge entstehen lassen. Klar, die Stadt war im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den folgenden Jahrzehnten durch russische Architekt ur - wenn man deren Hang zu grauem Plattenbau überhaupt so bezeichnen darf - geprägt worden, aber gerade deswegen müßte es doch Material für Artikel in Hülle und Fülle geben - so die Annahme vor Antritt der mit Neugier herbeigesehnten ersten Königsbergreise.
Wie unsagbar naiv das gedacht war, zeigte sich schnell, denn schon eine Busfahrt in die Innenstadt erwies sich für die junge Journalistin und ihre Begleiterin als schier unlösbares Problem. Nicht, daß keine Busse auf den breiten, von Schlaglöchern gezeichneten Straßen gefahren wären. Nein, Busse gab es genug, zusammen mit den unzähligen Pkws verseuchten sie mit ihren ungefilterten Abgasen die Luft. Als kompliziert erwies sich vielmehr die Frage, in welche Richtung sie fahren mußten, zumal sie die kyrillische Schrift auf den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht lesen konnten. Nach reiflicher Überlegung entschieden sie sich für die Linie 30, doch schon der Fahrscheinkauf erwies sich als nächstes Problem. Zwar hatten die beiden schnell durchschaut, daß die Fahrkarten an den neben den Bushaltestellen vorhandenen Kiosken zu erwerben waren, doch die dortige Verkäuferin zeigte sich wenig verständig. Die zwei jungen Frauen, die wild mit Rubelscheinen wedelten und auf den an der Haltestelle wartenden Bus zeigten und dazu Wörter wie "ticket" und "bus" aus einer ihr fremden Sprache riefen, waren ihr äußerst suspekt. Schützend beugte sie sich über ihr Ticketheftchen und nahm erst wieder Fassung an, als ein Mann mittleren Alters sie in vertrautem Russisch um ein Billett bat. Aus dem Augenwinkel heraus konnte sie noch beobachten, wie die beiden weiblichen Störenfriede einige der an der Haltestelle Wartenden belästigten. "Can you speak english?", "Kannst du Deutsch?", "Parlez vous francais?", "Snakke du norsk?"; diese Fragen stellten die Eindringlinge den Passanten, aber weder alt noch jung reagierten.
Also ging es zu Fuß ins Stadtzentrum, doch hier lauerte schon das nächste Problem. Der Stadtplan des Baedecker-Reiseführers war in lateinischer Schrift, die Straßenschilder jedoch in Kyrillisch. So ging es dann "nach Gefühl" weiter, doch weit sind die teils unbefestigten Wege ... und schmutzig. Schon nach wenigen hundert Metern waren die Schuhe voller Matsch und der Hosensaum vollgesogen.
Entlang der alten Stadtmauer führte der Weg, und in regelmäßigen Abständen bekamen die beiden Reisenden eines der noch vorhandenen Stadttore aus der Zeit des königlichen Preußen zu Gesicht. Königstor, Sackheimer Tor, Brandenburger Tor ... Jedesmal zuckten die beiden Schleswig-Holsteinerinnen zusammen, wissen sie doch, wie pflegsam beispielsweise die Hansestadt Lübeck mit ihren historischen Stadttoren umgeht, wie sie die jahrhundertealte Substanz mit allerlei Maßnahmen zu schützen versucht. Hier fuhren stinkende, Schadstoffe speiende Autos um die im Verfall befindlichen steinernen Zeitzeugen. Anzeichen für Schutzmaßnahmen zum Erhalt der Stadttore waren nirgendwo auszumachen. Statt dessen erspähten die beiden auf dem Hof einer Kfz-Werkstatt - oder war es doch ein Schrottplatz - die Überreste eines Tores. Ringsherum hingen alte Autoreifen, so daß es auf den ersten Blick nicht zu erkennen war.
Doch was ist hinsichtlich der Achtung vor historischer Architektur von den Bewohnern einer Stadt zu erwarten, in der die Wohnhäuser ungepflegt vor sich hin rotten, in der sich keiner dafür zuständig fühlt, wenigstens die Flure zu putzen, die rostenden, aufgebrochenen Briefkästen zu erneuern oder das kaputte Dach zu flicken?
"Wir Russen zeigen eben nicht, was wir haben", lautete die aus deutscher Wohlstandbürgersicht merkwürdige Antwort eines 26jährigen Mannes; übrigens der einzigen deutschsprechenden Person, der die beiden deutschen Damen auf ihrer Fahrt begegneten. Freundlich erläuterte er den deutschen Ignorantinnen, daß es der russischen Seele fern liege, mit dem, was man habe, zu protzen. Von innen seien die Wohnungen der Einwohner fast alle ordentlich und hübsch eingerichtet. Auf den Einwand, daß gerade die neureichen Russen weltweit nur so mit ihrem Geld um sich schmissen, reagierte er mit überlegenem Schweigen. Auch die Frage, ob die Stadt sich im nächsten Jahr zu ihrem 750. Geburtstag ähnlich wie St. Petersburg herausputzen werde, belehrte der als Autoaufkäufer in der Bundesrepublik Deutschland tätige einstige Informatikstudent, daß die Stadt gar nicht so alt sei. Außerdem habe die Stadt schon zweimal zur Zeit Napoleons zu Rußland gehört und die Germanen ...
Es gibt Dinge, die muß man gar nicht zu Ende hören, und es gibt Dinge, die muß man trotz zahlreicher Berichte selber erkunden. Zu letzterem zählten unsere beiden Grenzgängerinnen auch die Dominsel im Herzen der Stadt. Nicht, daß der teilweise restaurierte Dom nicht schön anzuschauen wäre, doch die historischen Gemälde und Fotos im neu eingerichteten, informativen Kantmuseum zeigen, wie ungleich schöner die Stadt einst gewesen ist. Wenn schon jemandem, der das Vorkriegs-Königsberg nur von Bildern kennt, bei dem Anblick das Herz blutet, wie ergeht es dann erst den einstigen Bewohnern?
Beklommen verließen die beiden Zeitenwandlerinnen die ruhige Dominsel. Mit jeder Stufe hinauf zur Brücke über den Pregel wurden der Straßenlärm und der Gestank der Abgase stärker. Menschen hasteten eilig irgendwohin. Russische Gegenwart!
Oben angekommen blickten sie wehmütig auf den inzwischen zum ungepflegten Park verkommenen Kneiphof hinab, und vor ihrem inneren Auge lebte kurz auf, was hier einst war.
Schweigend gingen sie nebeneinander her, links und rechts lieblos bebaute Straßen. Der Hunger ließ sie auf die Suche nach einem Restaurant das Hotel "Kaliningrad" betreten. Unwillige Kellnerinnen zeigten jedoch keine Reaktion. Wütend wurde der Rückzug angetreten, doch lange Zeit waren allenfalls wenig vertrauenserweckende Imbißstuben auszumachen. Endlich, im gut erhaltenen Dohna-Turm neben dem durchaus sehenswerten Bernsteinmuseum, entdeckten die inzwischen äußerst Erschöpften ein schönes Restaurant, in dem die Speisekarte sogar in englischer wie deutscher Sprache gedruckt war.
Mit Sätzen wie "Der Spirit wird Ihre Zunge beleben" und "Der Flavour ist unvergeßlich" wurden hier sogar die Gerichte kommentiert, und die in historischen Burgfräuleinkostümen wie Schönheitsköniginnen daherstolzierenden Kellnerinnen servierten dann auch nach einer etwas längeren Wartezeit zwei Teller mit großen Hähnchenfleischpollern gefüllt mit Bananen, Pilzen und Paprika. Bizarr, aber eßbar.
Beim Verlassen des Restaurants bemerkten die inzwischen wieder etwas muntereren Stadtbesucherinnen sogar eine eiserne Mülltonne mit dem Aufdruck "Königsberg i. Pr. 1939".
Drei Tage währte der Besuch noch, in der die Suche nach deutschen Spuren weiterging. Auch der Alltag in der Stadt wurde genau beobachtet, doch wer keinen kennt, der sich hier auskennt, bleibt ähnlich außen vor wie ein Museumsbesucher. Mehr noch, Sprachbarrieren und unterschiedliche Lebensauffassungen waren noch trennender als jede Glasscheibe.
Als der Bus vom ZOB Richtung Bundesrepublik Deutschland abfuhr, atmeten die beiden jungen Bundesbürgerinnen erleichtert auf. Es war fast so, als verließen sie einen fremden Planeten, der zwar durchaus interessant, aber doch sehr eigen und in sich gespalten ist.
Auf dem Hof einer KfZ-Werkstatt oder eines Schrottplatzes: Überreste eines Stadttores aus der Zeit des königlichen Preußen
Nur wenig großstädtisches Flair: Wohnkomplex mit Kuh auf der Grünfläche in der Innenstadt Königsbergs.
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