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Es ist schon verblüffend, was wir Deutschen uns so alles einreden lassen. So haben wir uns vor etlichen Jahren einreden lassen, wir seien "ein einig Volk von Börsianern". Millionen von Kostolanys im Westentaschenformat stürzten sich auf "Volksaktien" und Investmentfonds und was immer medienwirksam als Schlüssel zu Reichtum und Glück angepriesen wurde. Der Deutsche, bis dahin im internationalen Vergleich eher als Aktienmuffel verpönt, entdeckte den diskreten Charme der Börsennachrichten, die nunmehr ihren öffentlich-rechtlichen Stammplatz zu bester Sendezeit haben und es sogar zu einem eigenen als Nachrichtensender getarnten Pivat-Sender gebracht haben. Und wer mehr als drei Telekom-Aktien sein eigen nennt, läßt sich per SMS im Stundentakt über das Neueste von den Kapitalismus-Tempeln informieren.
Kritiklos wird das allabendliche Wortgeklingel der sogenannten Analysten hingenommen. Das sind jene superklugen Damen und Herren, die ganz offensichtlich über die seltene Gabe verfügen, "das Gras wachsen" zu hören - im wesentlichen allerdings nur das Gras, das über ihr eigenes dummes Geschwätz von gestern gewachsen ist. Denn was heute als logische Begründung für den Kursgewinn gilt, war am Vortag noch Anlaß für "berechtigten Pessimismus" der professionellen Anleger. Dieses Geschäft mit dem kurzen Gedächtnis läuft offenbar recht gut; zumindest wohl besser als die Geschäfte vieler Jungunternehmer, die an die Börse gingen - nicht aus wirtschaftlicher Vernunft, sondern "weil man an die Börse geht".
Man erinnere sich an die kurze Geschichte des "Neuen Marktes". Voller Euphorie stürmten Jungunternehmer vornehmlich der IT- und Internet-Branche das Börsen-Parkett - oft beschränkte die fachliche Qualifikation sich auf die Fähigkeit, "New Economy" unfallfrei auszusprechen. Drei Jahre lang ließen sich unprofessionelle Kleinanleger von dem täglichen Analystengeschwafel blenden, steckten ihr Erspartes in Nemax-Papiere - und waren somit in den folgenden zwei Jahren an einer gigantischen Kapitalvernichtung in der Größenordnung von mehr als 200 Milliarden Euro aktiv beteiligt. Der Spruch "Da kann man sich auch nichts mehr für kaufen" gewinnt hier eine völlig neue, sehr realistische Bedeutung.
Was haben die Deutschen gelernt aus all diesen geplatzten Luftballons, diesem jähen Erwachen aus den Träumen vom "Tellerwäscher, der zum Millionär wird"? Im Einzelfall vielleicht die bittere Erkenntnis, daß man an der Börse auch den umgekehrten Vorgang erleben kann, ansonsten aber nichts.
Mindestens einmal pro Woche erfahren wir im Rahmen der "Tagesschau"- und "Heute"-Börsen-PR-Sendung, daß die Firma XYZ zum Zwecke der Kostendämpfung und Renditemaximierung den Personalbestand um ein paar Hundert oder auch ein paar Tausend reduziert; wie das Amen in der Kirche folgt die frohe Botschaft, daß der Aktienkurs besagter Firma sprunghaft nach oben gegangen sei. Aktuelles Beispiel ist der Versicherungs- und Finanzdienstleister "Allianz". Die Ankündigung, 7500 Stellen zu streichen, wurde von den professionellen Anlegern euphorisch bejubelt und mit deutlichen Kursgewinnen honoriert. In diesen Kreisen läßt die berechtigte Aussicht, auf diese Weise den Rekordgewinn von fast viereinhalb Milliarden Euro noch einmal steigern zu können, offenbar alle Hemmungen fallen. Den 7500 demnächst Arbeitslosen wird allenfalls noch ein höhnisches "Hoffentlich ,Allianz -versichert" für den Weg in eine unsichere Zukunft nachgeworfen.
Bei solchen Gelegenheiten fragt man sich, wie lange wir uns solch Zynismus noch bieten lassen wollen. Kritik- und widerspruchslos wird der Mensch zum bloßen Kostenfaktor reduziert, den man nach Belieben hin- und herschieben, verlagern oder eliminieren kann. Man muß nicht mit den abstrusen Theorien des Marxismus und ihren makabren sozialistischen Realisierungen sympathisieren, um zu einer Kritik solch verzerrter Formen des Kapitalismus zu kommen. Hier reicht der Rückgriff auf das traditionelle christliche Menschenbild. Daraus folgt: Auch in der Arbeitswelt muß der Mensch mehr sein als die Summe aus Lohn und Lohnnebenkosten. Nichts hindert Unternehmer und Manager, ein solches Menschenbild zur Leitlinie ihrer Personalpolitik zu machen, ohne daß sie darum ihr selbstverständliches Recht, Gewinne zu machen, aufgeben müßten. Denn diese Firmenphilosophie war es, die deutsche Unternehmen einst an die Weltspitze gebracht hat. Blanke Profitgier aber, die sich nur noch an den Interessen anonymer Kapitalanleger orientiert, ist langfristig ein Zeichen von schlechter Unternehmensführung und schlechtem Management. Diejenigen, die dies zu verantworten haben, sind leider die einzigen, die von Stellenabbau, Kündigung und Arbeitslosigkeit verschont bleiben - auch bei der "Allianz".
Aktien beleben Traum vom Tellerwäscher zum großen Millionär
Der Mensch muß mehr sein als Summe aus Lohn und Nebenkosten
Näher beim Kunden - in Indien?
Mit dem Streichen von 7500 Stellen will sich der "Allianz"-Konzern fit für die Zukunft machen und den "Kunden mehr in den Mittelpunkt" stellen. Nur in den Mittelpunkt von was? Gerade die Mitarbeiter haben die "Allianz" doch überhaupt beim Kunden repräsentiert, denn schließlich ist die "Allianz" keine Direktversicherung, dazu hat sie weder die günstigen Konditionen, den Kundenstamm noch die Produktpalette. Also was will die "Allianz"? Überdecken, daß Fehlmanagement Entlassungen aus finanziellen Engpässen heraus notwendig machen. Außerdem verweist sie ablenkend auf ihre Auslandaktivitäten. So versichert der Konzern auch indische Bauern - für 87 Cent im Jahr. Zwar schreibt das Indien-Geschäft mit seinen 79000 Kunden noch rote Zahlen, doch bei 1,1 Milliarden Menschen, die jetzt erst begreifen, daß man seine Familie im Todesfall absichern kann, berge das Land riesiges Potential für Profite. Da 800 Millionen Inder allerdings in unzugänglichen ländlichen Gegenden und zumeist unter dem Existenzminimum leben, setzt man dort tätige Hilfsorganisationen ein. "Die Hilfsorganisationen sind für das Geschäft unentbehrlich, denn nur mit ihrer Hilfe können die Versicherungen überhaupt verkauft werden", heißt es seitens der Indienniederlassungen des Konzern. Sieht so die Zukunft des 1890 in Berlin gegründeten Unternehmens aus? Bel |
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