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Bei der Beisetzung des iranischen Revolutionsführers Khomeini spielten sich 1989 auf dem Teheraner "Friedhof der Märtyrer" unbeschreibliche Szenen ab. Zehntausende Schiiten umringten den Leichnam ihres geistlichen Oberhauptes. Ihr Ziel: einmal nur das Leichentuch des Ayatollahs küssen oder sogar den heilbringenden Leichnam selbst berühren. Das ekstatisch-kultische Treiben der Massen kostete schließlich über 100 Iraner das Leben; sie wurden erdrückt oder zu Tode getrampelt. Ähnliche pseudoreligiöse Tumulte waren bereits 1970 in Kairo bei der Trauerfeier für den Staatspräsidenten Ägyptens, Gamal Abdel Nasser, eskaliert.
Der Islam ist ein aktuelles Beispiel dafür, daß der Kult um die sterblichen Überreste von Heilsbringern und Erlösern keineswegs nur ein Phänomen aus der längst vergangenen Epoche des finsteren Mittelalters gewesen ist. Auch blieb er nie allein eine Angelegenheit der katholischen Kirche.
Der Reiseschriftsteller und spätere Revolutionär Johann Georg Adam Forster (1754-1794) schrieb im Jahre 1790: "Nirgends erscheint der Aberglaube in einer schauderhafteren Gestalt als in Köln. Jemand, der aus unserem aufgeklärten Mainz dorthin kommt, hat in der Tat einen peinigenden Anblick an der blinden Abgötterei, die der Pöbel hier wirklich mit den Reliquien treibt. Allein, daß man die Stirn hat, dieses zusammengeraffte Gemisch von Menschen- und Pferdeknochen, welches vermutlich einmal ein Schlachtfeld deckte, für "Heiligtum" auszugeben, und daß die Kölner sich für diese Heiligkeiten totschlagen oder, was noch schlimmer ist, den kühnen Zweifler selbst leicht ohne Umstände totschlagen könnten, das zeugt von der dicken Finsternis, welche hier in Religionssachen herrscht."
Doch wer auch immer durch Aufklärung, Vernunftglauben und Säkularismus ein Ende auch des Reliquienkultes erwartet hatte - er war Illusionen aufgesessen über die menschliche Natur. Das immer wieder überschäumende Glaubensbedürfnis des Individuums, das sich trotz Französischer und Russischer Revolution nicht absättigen ließ durch Wissenschaft und Rationalismus oder durch Politik und Revolutionstheorien - es ist heute, in unserer postmodern-globalisierten Welt, nicht durch Karriere, Wohlstand und Kommerz zu befriedigen. Allenfalls läßt es sich damit verdrängen und verlagern. Die "Autonomie des modernen Menschen" ist sehr erfinderisch, wenn es gilt, immer wieder neue Surrogate für den Glauben an Gott zu kreieren.
Dies zeigte sich auch im neuheidnischen Heiligenkult, wo für den Adoranten nun die politischen Helden anstelle der christlichen Bezugspersonen auf die Altäre gehoben wurden. Als Napoleons Leichnam 1840 von der Insel St. Helena in den Pariser Invalidendom überführt wurde, war ganz Frankreich auf den Beinen. Hunderttausendfach klang der Ruf "Vivat Imperator!" durch die Straßen. Auch Bismarck, der eiserne Kanzler, wurde nach seinem Tode 1898 mit pseudoreligiösen Huldigungssprüchen bedacht: kirchenliedartige Verse gab es über ihn: "O Bismarck, steig vom Himmel nieder, / ergreif des Reiches Steuer wieder. / Wo du bist, da ist Deutschland."
Die Reichsgründung hatte man apostrophiert als "Heilige Zeit", Bismarcks Tod als "Heilige Stunde". Noch beim 100. Geburtstag im Jahre 1915 formulierte der Sprecher der im Mausoleum zu Friedrichsruh versammelten Rektoren aller deutschen Universitäten: "Von dir, Bismarck, erflehen wir: / Sei auch ferner im Geiste bei uns hier!"
Insbesondere die totalitären Ideologien verstanden es, den pathetisch betriebenen Kult um die toten Helden für ihre Zwecke zu nutzen. Ihre politischen Spitzenkräfte wurden als Ersatzheilige präsentiert. Während man in Sowjetrußland bereits im Jahre 1918 sämtliche Reliquiengräber zerstört und dann im "Museum für Atheismus" in Moskau Reliquien in abstoßender Weise ausgestellt hatte, um diesen Kult zu denunzieren, schreckte man aber 1924 keineswegs davor zurück, den toten Lenin einzubalsamieren, um ihn dann über sieben Jahrzehnte lang zu verehren als unverwesten Urahnen der neuen Gesellschaft und sein Mausoleum zu heiligen als Mekka für Fortschrittsgläubige aus der ganzen Welt.
Auch die Nationalsozialisten setzten ihre Märtyrer in Szene. Die beim Münchener Putsch 1923 Erschossenen und der 1930 bei einer Schlägerei ums Leben gekommene SA-Sturmführer Wessel wurden zu asketischen Helden stilisiert, denen zahllose "Kampfzeit"-Epen, filmische Apotheosen und Gedächtnis-kantaten gewidmet wurden. Es gab die "Blutfahne", die "Heilige Wache" auf dem Königsplatz und den "Ehrentempel" in der Feldherrnhalle in München, es gab das Horst-Wessel-Lied, das neben dem Deutschlandlied zur zweiten Nationalhymne avancierte.
Auch in der jüngsten Vergangenheit ist der Totenkult wirksam geblieben; von Mao Tse-tung und Che Guevara über die Idole der westlichen Popkultur wie Marilyn Monroe und John Lennon bis zu Prinzessin Diana. Wenn man sich das Treiben an einem mittelalterlichen Schrein vorstellen wolle, so der Mainzer Kirchengeschichtler Peter Maser, müsse man heute an das Grab von Elvis Presley fahren. Auch dort blühe der Glaube an Wunder.
Das, was Hegel (im Blick auf nationalistisch-ideologische Rührseligkeit) den "Brei des Herzens" genannt hat, wird gerade dort am meisten aufgewühlt, wo man sich überwältigen läßt von Wissenschaft und Computerindustrie, vom Dauerbombardement mit Informationen und "gestriegeltem Amüsement" (Max Horkheimer). Sterbende Kirchen und das Verblassen aller traditionellen Bindungen sind keine Meilensteine auf dem Weg zur freien und mündigen Persönlichkeit, sondern - wie es Horst Eberhard Richter genannt hat - Symptome der "Allmachts-Phantasien" und des "Gotteskomplexes" des modern sein wollenden Zeitgenossen. |
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