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Mehr Eigeninitiative statt Fürsorge

 
     
 
Das Lamento über den Reformstau, mag er existieren oder nicht, veranlaßt immer mehr Autoren, Bücher unter die Leute zu bringen. Diesmal hat Paul Nolte, Historiker an der "International University Bremen", zur Feder gegriffen.

Derzeit erleben wir, so Nolte, die Neuformierung einer "Klassenstruktur", gestaffelt und hierarchisiert nach "Bildung und Besitz". Die These der 50er und 60er Jahre
, daß wir in einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" leben, sei widerlegt. Jedoch verursache nicht der Gegensatz von "Kapital und Arbeit" die soziale Spaltung, sondern eher unterschiedliche Lebens- und Konsumstile. Kann man diese Bereiche tatsächlich trennen?

Die "neue Mitte", die Kanzler Schröder gern zitiere, bleibe weithin fiktiv. Seit den 60er Jahren verliere die mittelständische "Bürgerkultur" an Prägekraft. Die Wiedervereinigung stärkte diesen Trend, denn die DDR habe ihr "Bürgertum" ausgelöscht. Gleichzeitig erfasse der Strom der Zuwanderer vor allem Unterschichten, mache sie disparat, verwandle sie in "hermetische Parallelgesellschaften". Droht Deutschland, gerade auch angesichts der Massenarbeitslosigkeit, der Kollaps?

Am ehesten bejahten FDP und Grüne soziale Gegensätze und Ungerechtigkeiten. Meistens falle die neue soziale Frage allerdings systematischer "Verdrängung" anheim. Man rede einfach nicht darüber. Zwar hält es Nolte für eine "Illusion", Armut und soziale Klassen beseitigen zu können, aber die Verdrängung der Realität gefährde langfristig die Demokratie.

Der historische "Fürsorgestaat", in deutscher Tradition tief verankert, erreiche die "Grenzen seiner Tragfähigkeit". Notwendig sei es, die Leistungen des "post-bismarck-schen Sozialstaats" zu reduzieren. Erst dann gewinnen "Eigeninitiative und Verantwortung" mehr Raum. Den bisherigen Sozialstaat verwirft Nolte als "kollektivistisch-korporatistisches Zwangssystem", das zugunsten individueller Vorsorge abzubauen sei, damit eine "Bürger- und Zivilgesellschaft" entstehe, die der liberale Globalkapitalismus erfordere. Der SPD empfiehlt Nolte, ein "zweites, noch radikaleres Godesberg" in Angriff zu nehmen, statt zwecklose Kritik am Kapitalismus zu üben.

In allen Parteien kämpften "Modernisierer" gegen "Traditionalisten". Letztere spielen die Rolle des Hinterwäldlers. Gegen verstaubte Maximen sei eine Koalition von Merkel bis Schröder zu formieren. Politische und soziale Strukturen will der Autor nicht ändern. "Keine Revolution", lautet die wichtigste Botschaft. Es folgt der moralische, letztlich unpolitische Appell, mehr "Verantwortung" zu tragen und individuelle Risiken nicht der "Solidargemeinschaft" aufzubürden.

Mehr Eigeninitiative statt Fürsorge - das klingt gut, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als romantisches, von Nolte sogar religiös verbrämtes Trugbild. Nolte erliegt einem schlichten Irrtum, wenn er glaubt, daß sozialstaatlicher Ab- oder Umbau die Arbeitslosigkeit, zumal im Osten, verringere. Der klassische Arbeitnehmer kann qualifizierte Stellen weder schaffen noch verteilen, legt er auch noch so viel "Initiative" an den Tag. Das völlig abstrakte Ideal einer "Bürgergesellschaft" entspricht liberalen Wunschträumen des frühen 19. Jahrhunderts.

Nolte favorisiert eine Mischung aus "individualisierter Versicherungspflicht und steuerfinanzierter Unterstützung". Er tadelt es, wenn die Kasse für jede "Bagatellkrankheit" zahle. Was aber ist eine "Bagatellkrankheit"? Der mündige Bürger müsse endlich die "Freiheit" erhalten, "ein ihm zusagendes Gesundheitspaket" zu wählen. Hoffentlich ist es auch zu finanzieren! Der "Steuerstaat" sei durch ein "Gebührensystem" abzulösen, das es unnötig mache, Hochschulen und Opern zu subventionieren.

Der Historiker Paul Nolte glaubt, daß sozialpolitische "Traditionalisten" den Geist Bismarcks atmen. Nur geht er viel weiter zurück - in die Ära der Dampfmaschine. Rolf Helfert

Paul Nolte: "Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik", Verlag C.H. Beck, München 2004, 253 Seiten, 12,90 Euro

 
     
     
 
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