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Morde Stalins

 
     
 
Der Kampf um Königsberg wird heute von Russen mit Russen geführt. Vor kurzem ist in Königsberg von über 250 Vertretern des öffentlichen Lebens eine "regionale gesellschaftliche Bewegung Republik" gegründet worden. Vorsitzende sind die Abgeordneten der Gebietsduma Vitautas Lopata und Igor Rudnikow sowie der Präsident des Königsberger Unternehmerverbandes Sergej Pasko. Sie treten dafür ein, daß das Gebiet den Status einer autonomen Republik erhält. Gennadij Zjuganow, der Vorsitzende der russischen kommunistischen Partei, spricht diesbezüglich von "Kräften, die bestrebt sind, eine antirussische Politik zu betreiben, die auf die Zerstückelung des Landes abzielt. Wenn man in den USA öffentlich für eine Abtrennung Alaskas einträte, käme man dafür ins Gefängnis." Deshalb fordert Zjuganow, solche separatistischen Bestrebungen unter Strafe zu stellen. Königsberg ist für ihn ein untrennbarer Bestandteil Rußlands.

Das offizielle russische Emblem für das Stadtjubiläum zeigt die Aufschrift "750 Jahre Kaliningrad" vor den Umrissen des Königstors in den Farben der russischen Fahne. Michail Iwanowitsch Kalinin (1875-1946), nach dem die Stadt im Jahre 1946 benannt wurde, war ab 1938 formelles Staatsoberhaupt der Sowjet-

union. In dem in Moskau im Jahre 2000 erschienenen "Neuen illustrierten
enzyklopädischen Wörterbuch" heißt es über ihn: "Er gehörte zur engsten politischen Umgebung Stalins; er sanktionierte faktisch die massenhaften Repressalien der Jahre 1930 bis 1940." Nach diesem Mann, der für die millionenfachen Morde Stalins die Mitverantwortung trägt, waren in der Stalinzeit zahlreiche Städte, Straßen und Plätze benannt. Alle haben heute ihre früheren Namen zurückbekommen. So heißt die frühere Stadt Kalinin seit 1990 wieder Twer, wie vor 1931. Nur Königsberg haben die zuständigen russischen Stellen seinen historischen Namen nicht zurückgegeben. Doch letzten Monat stand der Name "Königsberg" in allen Zeitungen, auf Spruchbändern und Plakaten und wurde in allen Reden immer wieder genannt. Wenn man in einer Buchhandlung fragt, ob es Bücher über Königsberg gebe, wird man zu einem Regal geführt, das voll ist mit russischen Büchern über Königsberg und über Ostdeutschland. Man kann große Wandkalender mit Bildern des alten Königsbergs kaufen, das kaum einer der heute in der Stadt Lebenden jemals mit eigenen Augen gesehen hat. An jedem Kiosk werden Reproduktionen von Ansichtskarten des alten Königsbergs verkauft. Im Untergeschoß eines guten Restaurants findet man an den Wänden Schilder aus dem alten Königsberg, beispielsweise die Reklame einer Königsberger Likörfabrik und das Schild "Lest die Königsberger Allgemeine Zeitung!" Die kleinen Zuckertütchen, die man zum Kaffee bekommt, zeigen das Wappen Königsbergs in einem Strahlenkranz und darunter das Bild der mittelalterlichen Stadt mit der russischen Aufschrift "750 Jahre Königsberg". Die "neuen Russen" finden es schick, ihre Häuser mit Gegenständen und im Stil des alten Königsbergs einzurichten. Russische Firmen benutzen "Königsberg" als Bestandteil ihres Firmennamens.

Michael Wieck berichtet in seinem Buch über den britischen Bombenangriff auf Königsberg in der Nacht zum 29. August 1944: "Diesmal überschütteten die Bomber mit System und Sorgfalt die gesamte Innenstadt vom Nordbahnhof bis zum Hauptbahnhof mit erstmalig eingesetzten Napalmkanistern, Spreng- und Brandbomben verschiedener Bauart, so daß innerhalb kurzer Zeit die ganze Stadt gleichzeitig zu brennen anfing. Durch die Hitzeentwicklung und den sofort entstehenden Feuersturm hatte die in den engeren Straßen wohnende Zivilbevölkerung keine Chance zu entkommen. Sie verbrannte vor den Häusern genauso wie in den Kellern ... Was jedermann über den Luftangriff auf Dresden weiß, weil er oft in aller Schrecklichkeit beschrieben wurde, erlebten die Königsberger schon sechs Monate vorher."

Die Stadt und ihr Name wurden ausgelöscht, ihre Einwohner getötet oder vertrieben. Und dennoch ist Königsberg auf eine geheimnisvolle Weise vorhanden. Viele Russen, die nach dem Krieg in dieser zerstörten Stadt geboren und aufgewachsen sind, scheinen das zu spüren und eine Art Sehnsucht danach zu empfinden, sich mit der alten Stadt in Verbindung zu setzen. Sie treffen sich darin mit den alten Königsbergern und ihren Nachkommen, die die Stadt besuchen.

Arthur Schopenhauer hat geschrieben: "Genau betrachtet ist es undenkbar, daß das, was einmal in aller Kraft der Wirklichkeit da ist, jemals zu nichts werden und dann eine unendliche Zeit hindurch nicht sein sollte" ("Die Welt als Wille und Vorstellung", II, Viertes Buch, Kapitel 41). Aber wer faßt es? Auf dem philosophischen Kongreß, den die Russische Akademie der Wissenschaften letztes Jahr in Moskau zum 200. Todestag Immanuel Kants veranstaltete, meinte ein russischer Philosophieprofessor strahlend zu einem deutschen Kongreßteilnehmer: "Wir sind alle im Geist der klassischen deutschen Philosophie erzogen worden!" Wie er erzählte, ist er im Jahre 1948 zum ersten Mal in Königsberg gewesen. Die Innenstadt war ein einziges Ruinenfeld. An der ausgebrannten Domruine stand jedoch der offene Pfeilerbau des Kant-Grabmals und war völlig unversehrt. "Das war ein Wunder!" sagte der Professor und fragte seinen Gesprächspartner aus der Bundesrepublik Deutschland, ob jemand schon einmal versucht habe, das zu erklären. Wer weiß es? Fest steht jedoch, daß Kant im Jahre 1784 in seinem Aufsatz "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" die Ansicht äußerte, daß man "nicht voraussagen könne, ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln, in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Kultur durch barbarische Verwüstung wieder vernichten werde ...". Königsberg, die Stadt, in der Kant geboren und gestorben ist und wo er alle seine unsterblichen Werke schrieb, scheint ein Beispiel für die Wahrheit seiner Worte zu sein. In seinem Traktat "Zum ewigen Frieden" hat Kant aber auch den Weg gezeigt, den jeder Mensch gehen kann, um zu einer Friedensordnung zu gelangen. Es geht dabei nicht darum, äußere Feinde zu besiegen, "sondern dem weit gefährlicheren lügenhaften und verräterischen, aber doch vernünftelnden, die Schwäche der menschlichen Natur zur Rechtfertigung aller Übertretung vorspiegelnden bösen Prinzip in uns selbst in die Augen zu sehen und seine Arglist zu besiegen" (Immanuel Kant, "Zum ewigen Frieden", Anhang I). Die Stadt Königsberg, in der heute die Sieger und die Besiegten friedlich zusammenkommen, zeigt der Welt, daß es möglich ist, diesen Weg zu gehen. Gerfried Horst
 
     
     
 
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