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Während am 1. Mai die Nachbarn Polen und Litauen ihre Aufnahme in die EU feierten, fühlten sich die 950.000 Russen, die in der Königsberger Exklave leben, wieder einmal im Stich gelassen von ihrem "Mütterchen" Rußland.
Vorausgegangen war in der Vorwoche die Ankündigung des russischen Verkehrsministers Fadejew, daß die beim EU-Gipfeltreffen vom 11. November 2002 zwischen der EU und Rußland beschlossene Einführung eines Hochgeschwindigkeitszuges Königsberg-Moskau nun doch nicht verwirklicht werden könne. Laut Fadejew habe sich das Projekt als unrealistisch und unnötig erwiesen. Die jetzige Regelung hinsichtlich des Personentransits sei völlig ausreichend und beeinträchtige die Souveränität Litauens nicht, so der Minister.
Beinahe gleichzeitig wurde von Aeroflot die Erhöhung der Ticketpreise für Flüge zwischen Königsberg und Rußland bekanntgegeben, obwohl noch zum Jahreswechsel von seiten der Regierung versichert worden war, daß die Preise die alten bleiben sollten. Statt bisher 990 Rubel (rund 29 Euro) kostet ein Hin- und Rückflug nun 2.300 Rubel (rund 67 Euro), ein einfacher Flug 1.900 Rubel (55 Euro). Sein sogenanntes Sozialprogramm für Rentner und Jugendliche will Aeroflot jedoch beibehalten. Dieser Personenkreis kann weiterhin für 600 Rubel (rund 17,50 Euro) hin- und zurückfliegen. Für begrenzte Plätze gibt es darüber hinaus Sonderpreise.
Trotz der Preiserhöhungen sind im ersten Quartal die Passagierzahlen Aeroflots auf 28.500 angestiegen. Allein im April flogen 11.000 Passagiere nach Moskau. Die Fluggesellschaft erklärt sich den Anstieg mit ihrem erweiterten Angebot von vier Flügen täglich statt einem wie vorher.
Einwohner und Politiker der Königsberger Exklave vergleichen ihre Situation seit dem 1. Mai mit der Königsbergs vor 59 Jahren, als sich die Stadt in völliger Isolation von ihrem Land befand. Die Region muß sich ab jetzt nicht mehr nur nach russischen Gesetzen richten, sondern auch nach denen der EU.
Während die Nachbarn Polen und Litauen ihren Beitritt zur EU gründlich vorbereitet haben, indem sie ihre nationale Gesetzgebung mit jener der Europäischen Union in Einklang gebracht haben, können die Königsberger sich bislang nur vage Vorstellungen hinsichtlich ihrer Zukunft machen.
Bislang gibt es außer der Transitregelung für den Personenverkehr durch Litauen von der Exklave nach Rußland keine klaren Regelungen. Die Transitregelung existiert schon seit einem Jahr und hat sich durch die Ausgabe kostenloser Visa und vereinfachter Eisenbahndokumente bewährt. Für die Zukunft war die Einführung des nun auf Eis gelegten Hochgeschwindigkeitszuges durch Litauen geplant.
Was allerdings den Güterverkehr angeht, so ist bis heute keine Klärung erfolgt. Außer der Zusicherung der EU, diese Frage möglichst einfach und unbürokratisch zu regeln, gibt es keine Absprachen. Der russische Innenminister Sergej Lawrow sieht hier noch Raum für Verhandlungen, doch die Aussicht auf Vereinbarungen in ferner Zukunft nützt der Region wenig. Sie benötigt schon heute konkrete Verträge, damit ihre Wirtschaft nicht stagniert. Im Zollbereich gibt es bereits Verträge, die die Zustimmung der EU fanden.
Ab dem 1. Mai sollte ein elektronisches System "Transit Königsberg" eingeführt werden, das die Zollabfertigung für Lastkraftwagen beschleunigt. Die Spediteure tröstet das wenig, denn der Gütertransport durch EU-Gebiet unterliegt nicht nur Grenz- und Zollkontrollen, sondern auch weiteren sanitären, veterinären und dergleichen internationalen Kontrollen, für die sie ab jetzt Gebühren zahlen müssen, die sich auf etwa 30 US-Dollar pro Waggon belaufen. Unternehmer des Königsberger Gebiets befürchten, daß durch die erhöhten Kosten die Konkurrenzfähigkeit ihrer Waren sinken wird. Als Folgen sehen sie Produktivitätsrückgang, Steuereinbußen und damit eine Verringerung des regionalen wie auch des städtischen Budgets voraus, was unmittelbar zu einem Rückgang des Lebensstandards im Gebiet führen würde. Ob diese Befürchtungen berechtigt sind oder sich als Übertreibungen herausstellen, wird die Zukunft zeigen.
Fest steht, daß die Exklavenbewohner mit einem drastischen Anstieg der Lebenshaltungskosten und einer Verringerung ihres Lebensstandards rechnen. Ihre Unzufriedenheit richtet sich jedoch nicht gegen Brüssel, sondern gegen Moskau, von wo man mehr Sorge um die Zukunft der Exklave erwartet hatte.
Wie der Abgeordnete der Gebietsduma, Fjodor Jaroschewitsch, gegenüber der Presse erklärte, hat Moskau sich nicht um Verträge mit der EU über die anstehenden Probleme der Region gekümmert. Er kritisierte die Zentralregierung, der seiner Meinung nach auch heute noch der nötige politische Wille sowie ein gesunder Wirtschaftsverstand fehle, die beide notwendig seien, um die nicht einfachen Probleme der Königsberger Region zu lösen. Er glaubt, daß Moskau eine Chance verpaßt habe, denn die Europäische Union sei eine Wirtschaftsgemeinschaft, die einen nicht unbedeutenden Nutzen für das Königsberger Gebiet und Rußland bringen könne. Der Preis sei lediglich, die Gesetze des Gebietes denen der Europäischen Union in den Bereichen Steuern, Zoll, Umweltschutz und dergleichen anzupassen. Dies würde schon heute vielen Unternehmen die Existenz im Gebiet sichern und zur Entwicklung der Region beitragen. Der Lebensstandard könnte erhöht werden und das Königsberger Gebiet eine Vorreiterrolle für eine spätere Aufnahme Rußlands in die EU spielen, so die Vision des Dumaabgeord- neten. Julian Mühlbacher
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