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Notbremse

 
     
 
Wann immer der Hochfinanz in den USA ranghohe Politiker aus dem Ruder zu laufen drohten, wurden sie aus dem Weg geräumt oder zur Räson gebracht. Im alten Rußland lief dies nur in seiner Endphase so, als das großfürstliche Umfeld des Zaren Nikolaus II. und die neue Oberschicht aus Geld und Industrie die harschen Forderungen Frankreichs und Englands zu erfüllen trachtete, die auf einen Konflikt mit der europäischen Mitte aus waren. Als Rußland dann endlich im Krieg war, zeigte man dem Zaren die kalte Schulter und überließ ihn den Kugeln der Bolschewisten
; sein Ende in Jekaterinburg ist bekannt.

Stalin war in der Machtpolitik gewitzter, gleichwohl fand er schließlich sein unnatürliches Ende: die Gerüchte reichen vom Pistolenschützen Chruschtschow bis hin zu ungetreuen Leibärzten.

Seit dem Zusammenbruch des beispiellos blutrünstigen bolschewistischen Regimes in Moskau läuft der Wechsel in kommoder Weise ab, auch wenn die Frage der Persönlichkeit in einem Land, das endlich aus dem Schatten von Byzanz heraustreten möchte, entscheidend für den Kurs bleibt.

Jelzins nunmehriger Rundumschlag, der die gesamte Regierung ins Abseits brachte, entspricht zwar durchaus dem branchenüblichen Rückgriff aus dem byzantinischen Repertoire, doch scheinen die dunkel angedeuteten Hinweise auf eine in Bereitschaft stehende Opposition eher den Schlüssel zu jener Wende geliefert zu haben als andere Überlegungen.

Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man den nunmehr gefeuerten Regierungschef Tschernomyrdin nur als Präses von Öl und Gas mit unermeßlichen Einkünften skizzierte, er ist, ebenso wie Jelzin, ein Mann der auswärtigen Verbindungen, weshalb sich auch US-Präsident Clinton von diesem russischen Manöver unbeeindruckt zeigt und auch keine Änderung der russischen Außen- und Wirtschaftspolitik erwartet, die Innenpolitik blieb auffällig unerwähnt.

Denn Tschernomyrdin und sein Kabinett verschwinden nicht in Workuta oder in irgendeinem anderem sibirische Todeslager von einst, sondern gehen nur in vorbereitende Arbeitsstellung, um , wie die "Süddeutsche Zeitung" vermutet, sich "der Organisation der Präsidentschaftswahlen" zu widmen. Im Klartext heißt dies, daß die Palastrevolution nur ausgelöst wurde, weil die überfälligen Reformen unerfüllt und die Wirtschaftslage trotz ausländisch wohlwollender Zweckberichterstattung weiterhin katastrophal bleibt. Die Notbremse wurde gezogen, weil das mit Warnstreiks im April andrängende Volk nicht mehr bereit ist, den Kurs Jelzins und seiner Mannen zu stützen.

Rußland braucht eine soziale Marktwirtschaft und kein Manchestertum, es benötigt Hilfe, um aus der geistigen Knechtschaft der Massen zu einer Stärkung seiner Ich-Kräfte, kurzum zu Persönlichkeiten zu gelangen, damit die Segnungen dieses riesigen Landes mit seinen Reichtümern für die Völker erschlossen werden können.

Praktisch zielen die gegenwärtige Winkelzüge Jelzins darauf ab, die 1917/18 unterbundene Leistungskraft Rußlands weiterhin zu fesseln, die Stafette der Macht von Jelzin an den Milliardär Tschernomyrdin zu übergeben, damit das alte Spiel neu betrieben werden kann. Insofern dürften sich auch die Hoffnungen bestimmter Kreise Deutschlands, die in General Lebed einen Hoffnungsträger für das deutsch-russische Verhältnis sahen, nicht erfüllen – Wahlen sind heutzutage seltener eine Frage der Programme als vielmehr eine des großen Geldes.

Wie schrieb doch 1990 die Pariser Zeitung "France Soir" zynisch: "Doch für uns im Westen war der Kommunismus immer eine Segnung. Stellen wir uns nur vor, wie Europa aussehen würde, wenn es die Revolution von 1917 nicht gegeben hätte... Rußlands Wachstum wäre ganz normal gewesen. Das heißt: Rußland hätte allein soviel produziert wie der Rest des europäischen Kontinents... Der unverhoffte Kommunismus hat alles gestoppt. Er hat die Russen in Armut und Faulheit zurückgeworfen".

 
 
     
     
 
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