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Ostdeutschland - ein deutsches Arkadien

 
     
 
Die altgriechische Landschaft Arkadien gilt dem Bildungsbürger als Schauplatz glückseligen, idyllischen Landlebens, als das "Land, in dem die Zitronen blühen". Doch warum in die Ferne schweifen! Als es noch nicht gang und gäbe war, in den Ferien ans Mittelmeer zu fliegen, da gehörte – jedenfalls für West- und Süddeutsche – eine Reise nach Ostdeutschland zu dem Exotischsten, was man in den schönsten Wochen des Jahres unternehmen konnte. Die klassische Rundreise durch Deutschlands seinerzeit östlichste Provinz ist der Leitfaden eines neuen Videofilms. Die "Ostdeutschland-Reise 1937", so der Titel, stellt in zwei Teilen von jeweils eineinhalb Sunden Laufzeit alle ostdeutschen Reisegebiete vor. Es ist der umfassendste und vollständigste Erinnerungsfilm über Ostdeutschland, der bisher erschienen ist.

Der Autor, Kristof Berking, ist uns bereits durch neun ausgezeichnete Ostdeutschland-Filme bekannt. Zuletzt berichteten wir über drei Neuerscheinungen seiner Filmschmiede aus dem vergangenen Jahr: den Zweiteiler über den Untergang Ostdeutschlands, "Ostdeutschland im Inferno ’44/’45" und "Ostdeutschland im Todeskampf ’45", sowie die Filmdokumentation der Geschichte des Segelfliegens auf der Kurischen Nehrung
, "Ostdeutschland-Flieger". Hier nun hat Berking in einem einzigen Film ein Portrait der ganzen Provinz mit all ihren Sehenswürdigkeiten liefern wollen, ungetrübt von den Schrecken des späteren Untergangs. Ein solch positiver Film über Ostdeutschland, der gerade auch das Interesse der sogenannten Bekenntnisgeneration trifft – Berking selbst ist Jahrgang 1965 –, ist ihm wahrlich gelungen. Die Idee und das Ausgangsmaterial für den Streifen lieferten die Filmaufnahmen einer nicht mehr ausfindig zu machenden Familie aus Essen, die die Erlebnisse ihrer Urlaubsreise durch Ostdeutschland im Jahre 1937 mit einer Schmalfilmkamera festhielt, zum Teil sogar in Farbe, damals eine kostspielige Neuheit! Um kein ostdeutsches Reisgebiet auslassen zu müssen, hat Berking diese Amateuraufnahmen durch umfangreiches weiteres Filmmaterial aus der damaligen Zeit ergänzt. Wichtige Stellen, von denen es kein laufendes Filmmaterial gibt, sowie die Übergänge von einem Reiseziel zum nächsten werden mit einer überwältigenden Fülle bunter Reiseprospekte von damals bebildert, die der Autor in Archiven aufgetan hat.

Die Zugreise ab Essen beginnt mit einem Kurzaufenthalt in Berlin und einem Ausflug in die Schorfheide und führt zunächst nach Marienburg, dem Tor Ostdeutschlands. Bevor es jedoch nach Königsberg weitergeht, wird erst einmal das Weichselland einschließlich dem Kulmerland unter die Lupe genommen. Stationen sind Marienwerder, Thorn, Kulm und Graudenz. Nach einer informativen Besichtigung der Hauptstadt Ostdeutschlands führt uns die damals übliche Tannenberg-Fahrt über Heilsberg und Allenstein zu dem monumentalen Nationaldenkmal bei Hohenstein, das an die Schlacht von Tannenberg 1914 erinnerte. Die für Ostdeutschland besonders gravierenden Folgen des Ersten Weltkriegs, die vor dem Hintergrund der Schrecken des Zweiten Weltkriegs heute in Vergessenheit geraten sind, waren für den Touristen der 30er Jahren noch ganz präsent und begegnen auch uns in diesem Film immer wieder, so zum Beispiel in Form des Abstimmungsdenkmals in Allenstein oder der Soldatenfriedhöfe im ganzen Land. En passant werden so die historische Fakten in Erinnerung gerufen, die man, wie es an einer Stelle des Films heißt, kennen muß, wenn man verstehen will, warum der Friede von 1919 nicht halten konnte.

Die an die Tannenberg-Fahrt anschließende Tour durchs Oberland beinhaltet u. a. Osterode, Deutsch Eylau und eine ausgiebige Fahrt durch den Oberländischen Kanal bis Elbing. Diese alte Hansestadt ist dann der Ausgangspunkt für eine Erkundung der Orte am Frischen Haff: Cadinen mit seiner Majolikafabrik, Braunsberg mit einem Abstecher auf die Frische Nehrung und schließlich Frauenburg mit seinem Dom. Die Kunstschätze des Ermlandes zwischen Frauenburg und Rößel geben Anlaß zu nachdenklicher Rückbesinnung, begleitet von den Klängen einer zauberhaften, schwermütig stimmenden Serenade des letzten Tonmeisters des Reichssenders Königsberg. Doch der erste Teil der Reise endet heiter mit einer Rückblende auf die Eissegelregatten auf dem Schwenzaitsee bei Angerburg, der Pforte nach Masuren.

Dort setzt denn auch der zweite Teil des Films ein mit einer Dampferfahrt über die Masurischen Seen. Haltestationen sind Lötzen, Nikolaiken und in Rudczanny am Niedersee, dem Inbegriff Masurens. Kurze Abstecher führen nach Ortelsburg, Johannisburg, Lyck und Treuburg, immer begleitet von interessanten und gut recherchierten Kommentierungen, die den Film zu einem landeskundlichen Lehrstück machen. Der Rominter Heide und ihrer Tierwelt ist ein ganzes Kapitel gewidmet; vor allem die kapitalen Rominter Hirsche, die dieses Jagdgebiet berühmt gemacht haben, werden gewürdigt.

Der Raum der Quellflüsse des Pregels nordwestlich der Rominter Heide ist das Hauptzuchtgebiet des Warmblutpferdes Trakehner Abstammung. Wir sehen die edlen Pferde in Trakehnen selbst sowie auf einem Gestüt bei Gumbinnen, auf dem Turnierplatz in Insterburg und im Hauptgestüt Georgenburg. Und noch ein legendärer Vertreter der ostdeutschen Tierwelt wird uns vorgeführt: der Elch. Nach einem Besuch in Tilsit beobachten wir dieses ostdeutsche Wappentier in seinem Revier in der Memelniederung, wo 1937 das Naturschutzgebiet "Elchwald" eingerichtet wurde. Hier können wir an der Haffküste auch den Fischern bei der Arbeit zusehen.

Über den Nordbahnhof in Königsberg werden wir schließlich an die Ostsee geführt. Zunächst in die samländischen Bäder Rauschen und Cranz, aber auch nach Palmnicken zu einer Besichtigung des Bernsteinwerks. Dann mit dem Haffdampfer ab Cranzbeek zu den zauberhaften Fischerdörfern auf der Kurischen Nehrung: Rossitten mit seiner Vogelwarte und der Segelflugschule, Pillkoppen, wo wir die Bauweise der Kuren- und Keitelkähne bewundern können, Nidden, das wegen seiner Künstlerkolonie als "Worpswede des Ostens" galt, und schließlich Schwarzort mit seinem urwüchsigen Hochwald.

Von Memel aus treten die fiktiven Ostdeutschlandfahrer des Films mit dem "Seedienst Ostdeutschland" die Rückreise an. Von der Abfahrt der "Tannenberg" beim Seedienstbahnhof in Pillau sind einmalige Farbfilmaufnahmen zu sehen. Sogar in Zoppot wird noch einmal für einen letzten Tagesausflug an Land gegangen. So können wir uns auch noch einen Eindruck von der alten Hansestadt Danzig verschaffen, die zu Recht in dem Ruf stand, eine der schönsten Städte des deutschen Ostens zu sein.

Bisweilen kann man für Momente vergessen, daß diese Welt schon vor über fünfzig Jahren untergegangen ist. "Doch schon damals", heißt es am Ende des Films, "als die Schönheit Ostdeutschlands noch ganz real war, stand für den zivilisationsmüden Stadtmenschen des Westens der Name der Provinz Ostdeutschland synonym für eine Sehnsucht, für die Sehnsucht nach einer idealen Landschaft, in der der Mensch mit der Natur im Einklang lebt: für ein deutsches Arkadien."

"Ostdeutschland-Reise 1937", Teil I: Marienburg, Weichselland, Königsberg, Tannenberg-Fahrt, Oberland, Frisches Haff, Ermland. Teil II: Masuren, Ro-minter Heide, Trakehnen, Memelniederung, Samland, Kurische Nehrung, Pillau, Zoppot, Danzig. Zwei VHS-Videos mit je 88 Minuten Laufzeit. Zusammen DM 79,–. Zu beziehen über den Buchhandel.

 
     
     
 
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