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Die Szenerie war dramatisch: Winter, Januar und Februar 1945. Terrorwellen der Royal Air Force vernichten Städte wie Nürnberg, Magdeburg und Dresden. Über die Ostsee bringen Schiffe der Kriegsmarine Tausende Flüchtlinge in den Westen des Reichs. Keiner weiß genau, wann die Panzerspitzen der Russen auch Pommern überrollen und die Insel Usedom fallen würde.
Die Evakuierung der Heeresversuchsanstalt Peenemünde ist in vollen Zügen. Der Befehl dazu kommt Ende Januar von SS-Gruppenführer Kammler, dem nicht nur die unterirdische Fertigung der V-Waffen untersteht, sondern auch der Einsatz aller "Wunderwaffen" in Richtung Westen. Auch Wernher von Braun mit seiner Mannschaft ist Kammler auf Leben und Tod ausgeliefert.
Mitten in dem Chaos laufen am Peenemünder Prüfstand VII die Startvorbereitungen einer 14 Meter hohen Aggregat-4-Rakete unverdrossen weiter - und nicht etwa versehen mit einer Tonne Sprengstoff für den Endsieg, sondern ausgerüstet mit einer Nutzlast zur Erforschung der Hochatmosphäre.
Bereits 1942 hatte die Heeresversuchsanstalt einen Entwick-lungsauftrag für eine wissenschaftliche Meßkapsel an Pro- fessor Erich Regener von der Forschungsstelle für Physik der Stratosphäre Friedrichshafen vergeben. Die Kapsel sollte mit einer A4 im Steilflug in die Hochatmosphäre gestartet werden. Diese Beratung, die am 8. Juli 1942 in Peenemünde zum Thema "Ent- wicklung einer Apparatur zur atmosphärischen Höhenvermessung für A-4" stattfand, gilt bis heute als Geburtsstunde der Forschungsmethodik "extraterrestrische Physik".
Das Problem: Dieses Programm sollte nun in einer Zeit durchgesetzt werden, als alles durch das Raster "kriegswichtig oder nicht" geschüttet wurde. Daher verfaßten die Forscher ihren Aufgabenbereich sehr weitläufig, um möglichen "Raumfahrtverdächtigungen" vorzubeugen:
"Die baldmögliche Durchführung liegt nicht nur im Interesse der Forschungsstelle für Physik der Stratosphäre, sondern im Hinblick auf die Gewinnung einwandfreier Unterlagen für Flugbahnberechnungen, Erwärmungstafeln, Schußtafeln usw., auch im Interesse der Heeresversuchsanstalt Peenemünde."
Am 22. November 1944 hatte Wernher von Braun die Durchführung der Meßflüge mit der "Regener-Tonne" angewiesen. Zur Nutzlast gehörten ein UV-Spektrograph zur Vermessung des Sonnenspektrums, Baro- und Thermograph, Ionenmesser, Luftdichte-Interferometer und ein Galvanometer. Weiterhin sollten sechs Schläuche, die in dem 20 Meter großen Rückkehrfallschirm eingenäht waren, Luftproben aus der Hochatmosphäre zur Erde bringen. Der Fallschirm wird noch im Januar 1945 in der 30 Meter hohen Halle am Prüfstand VII getestet, kurz darauf auch während eines A4-Fluges. Die dabei mitgeführte leere "Regener-Tonne", lediglich mit Funksender und fluoreszierendem Farbbeutel ausgestattet, trennt einwandfrei ab und wassert anschließend in der Ostsee, so, wie viele Jahre später Apollo.
Seit dem 4. Januar 1945 befinden sich alle Instrumente einbaufertig und geeicht in Peenemünde und werden am 18. Januar zum Start vorbereitet. Doch das aktuelle Kriegsgeschehen, die Vorbereitungen zur Evakuierung und Montageprobleme verhindern die Mission, die zum Meilenstein der Raumfahrtgeschichte geworden wäre. Die Geräte werden ausgebaut und in Karlshagen deponiert.
Forschungsprogramme mit Raketen beginnen so erst Ende der 40er Jahre, als am vorläufigen Sammelort der Peenemünder im US-Staat Neu Mexiko die ersten Meßgeräte an Bord erbeuteter A4-Raketen aufsteigen. Diese Flüge dienen nicht nur atmosphärischen Messungen, sondern auch der Sonnenerforschung und liefern Höhenfotos mit dem nun erstmals sichtbar gekrümmten Erdhorizont.
Aber wieder bremst das Weltgeschehen die Wissenschaft und Wernher von Braun: Der Wettlauf ins All zwischen Sowjets und Amerikanern. Zwar wird bereits mit dem ersten amerikanischen Satelliten Explorer 1 ein Forschungsprogramm eingeleitet, welches zur Entdeckung der Strahlungsgürtel der Erde führt. Doch schiebt der Wettlauf zum Mond mit der Entwicklung des Saturn-Apollo-Programms unter Wernher von Braun die systematischen Forschungsprogramme mit Hilfe der Raumfahrt weiter auf, soweit diese nicht ganz konkret mit dem anvisierten Ziel der Mondlandung zusammenhängen. Dennoch bringen die bemannten Gemini-Flüge, die ersten Wettersatelliten, besonders aber der Testflug der Apollo 9 im Frühjahr 1969, eine unglaublich positive Ausbeute von brillanten Farbaufnahmen der Erdoberfläche, die erst Jahre später an Qualität und vor allem in der Aufnahmekontinuität übertroffen wird.
Der Mensch betritt den Mond, doch als ein langfristiges Mondforschungsprogramm beginnen soll, werden die letzten Apollo-Missionen aus Kostengründen gestrichen. Paradox in jeder Beziehung, daß Harrison Schmitt, der als letzter Astronaut seinen Fuß auf den Mond setzt, zugleich der erste Wissenschaftler auf dem Trabanten ist.
Kühne Pläne für die Zukunft der Menschheit
Die letzte Saturn-V-Mondrakete, die ins All fliegt, bringt schließlich im Mai 1973 das US-Raumlabor Skylab in den Orbit, ein Programm, welches nunmehr endlich auf die Erforschung des Weltraums, der Sonne, auf Materialforschung, Medizin und Biologie der Erde ausgerichtet ist. In den Jahren 1973 und 1974 können in drei Missionen je drei Astronauten für 28, 59 und 84 Tage an Bord von Skylab arbeiten. Die Abmessungen von Skylab (Durchmesser: 6,60 Meter) waren erheblich größer als die einzelnen Module der heutigen Raumstation ISS: 4,50 Meter. Mehr paßt nicht in den Frachtraum der amerikanischen Raumgleiter und der russischen Proton-Rakete.
Ein Vergleich von Skylab mit der ISS ist aber auch in anderer Hinsicht interessant: Skylab hatte ein Gewicht von rund 90 Tonnen und ein Volumen von 320 Kubikmetern. Die ISS wiegt fertiggestellt zirka 430 Tonnen und wird ein Volumen von 1200 Kubikmetern haben. Doch während Skylab mit nur einer einzigen Saturn-V-Rakete startete, soll ISS in einem 46 Flüge (!) umfassenden und fünf Jahre dauernden Montageprozeß - davon 33 Raumgleiter-Missionen - entstehen. Unter Nutzung Wernher von Brauns Saturn V wären also nur etwa fünf Einzelflüge und weitaus weniger Montagearbeit im All erforderlich gewesen, bei sicher deutlich geringeren Kosten.
Skylab indes hatte keine Zukunft. Das von Wernher von Braun erdachte Gesamtprogramm von Raumstation, Mondbasis und bemanntem Flug zum Mars zerbrach in den 70ern. Die Mondrakete Saturn V ging ins Museum, die Entwick-lung der thermonuklearen Triebwerke NERVA für den bemannten Marsflug - die wir jetzt benötigten - wurde eingestellt.
Als Wernher von Braun 1977 starb, flog das Raumlabor Skylab als großes Geisterschiff noch zwei Jahre um unsere Erde. Der Raumgleiter ("space shuttle") war noch nicht flugfähig. Saturn-Raketen für bemannte Flüge hatte man auch keine mehr. Und weil die NASA nicht einmal eine unbemannte Mission hinaufschickte, um Skylab zu retten, verglühte es im Sommer 1979.
Historisch gesehen endete bereits Anfang der siebziger Jahre in den USA der kontinuierliche Weg nach den Plänen Wernher von Brauns in der bemannten Raumfahrt. Zu Brauns Enttäuschung, der sich nach 1972, als Apollo endete, Marsflug und die Mondbasis in weite Ferne rückten, mehr und mehr irdischen Themen widmete. Etwa einem Bildungssatellitenprogramm für unterentwickelte Länder in Asien - wie Indien.
Die aktuellen Probleme der Menschheit, denkbare Nutzanwendungen aus der Raumfahrt und neue Zukunftstechnologien, beeinflußten auch von Brauns Ziele und Ideen, ohne daß er die großen Visionen von Mond und Mars dabei aufgab. Als die Unheilbarkeit seiner Krebserkrankung immer deutlicher wurde, erkannte der unermüdlichen Forscher, daß ihm nur noch wenige Jahre blieben. Selbst im Hospital arbeitete Wernher von Braun mit der ihm eigenen Disziplin und Begeisterung. Und wie stets ging es vor allem um die Zukunft.
Noch Mitte der siebziger Jahre war eine Vortragsreise in Deutschland zum Thema "Die Energieprobleme der Erde in der Zukunft" geplant, die jedoch nicht mehr stattfinden konnte. Brauns Visionen zu diesem völlig anderen Gebiet waren technologisch von der Raumfahrt nicht weit entfernt. Der Einsatz großer Solarzellen zur Energiegewinnung, wie am Skylab, gehörten bereits zum Raumfahrtalltag. Und daher setzte von Braun voll auf die Entwicklung großer Sonnensatelliten in 300 bis 500 Kilometern Höhe, von denen jeder einzelne den Strombedarf einer Drei-Millionen-Stadt decken sollte, indem die gewonnene Energie mittels Laser oder Mikrowellen zur Erde transferiert wird. Von den fossilen Energiereserven der Erde gab von Braun dem Erdgas für die nächsten Jahrzehnte die größte Zukunft. Im flüssigen Zustand solle es leicht per Schiff von einem Kontinent zum anderen befördert werden.
Mit der weiteren Eroberung der Weltmeere ließe sich aus Meeresplantagen mit Ernteschiffen massiv Seetang gewinnen und auf Plattformen, ähnlich den Ölbohrinseln, daraus Methangas erzeugen. Nach Wernher von Braun würde allein aus dem Seedreieck Kalifornien, Hawaii und Alaska der Energiebedarf der Erde gewonnen werden. Neben großen Sonnenkollektoren in strahlungsintensiven Gegenden und Gezeitenwasserkraftwerken könnten geothermische Kraftwerke, bei welchen tiefgepumptes Wasser durch die Erdwärme erhitzt wird, die Zukunft bestimmen.
Aber auch eine Weiterentwick-lung der Kernenergie, allerdings der Fusionsreaktoren, sollte nach Wernher von Braun eine Hoffnung für übermorgen sein: "Wenn sie gelingt, wenn wir Wasserstoffatome zu Helium verschmelzen können, sind alle unsere Energieprobleme gelöst", so der Raumfahrtpionier euphorisch. Der Wissenschaft gab er dafür dreißig, vierzig Jahre bis zu ihrer Nutzbarmachung, wenn ohne Unterbrechung daran zielstrebig gearbeitet würde.
Die Erde - das interessante Studienobjekt
Die Erforschung unseres Planeten erhielt mit dem Zeitalter der Raumfahrt eine völlig neue Perspektive. Heute kennt jeder das farbenfrohe Bild des blauen Planeten im All, ein Bild, welches die Menschheit erstmals Mitte der sechziger Jahre erblickte, als Satelliten die ersten Fotos der Vollerde übersendeten. Und nur wenige Jahre später blickten Menschen direkt vom Mond zur Erde. Aus der Raumfahrt wurde so nicht nur Technik und Herausforderung, sondern auch kulturhistorische Evolution.
Doch das Wissen bei der Erforschung des Weltraums, wie des sehr erdähnlichen Planeten Mars, dient, wie dies auch stets Wernher von Braun sah, auch der Erforschung unseres Planeten. Und neue Technologien für Flüge ins All hatten immer die irdische Anwendung zur Folge. Kenntnisse klimatischer Zusammenhänge auf anderen Planeten gestatten eine Rückkopplung auf das Verstehen in der Veränderung unserer Umwelt, aber auch, um den Planeten Mars als neue Welt für eine Besiedlung der Menschheit in ferner Zukunft zu sondieren. Ob die erste bemannte Marslandung, vielleicht sogar fünfzig Jahre nach der historischen Mondlandung von Apollo-11 im Jahre 2019, kommen wird, scheint fraglich, da es eine zielgerichtete Projektdynamik, wie bei Apollo, noch nicht gibt.
Die Visionen Wernher von Brauns, der am 23. März seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte, wie Mondlabor, Raumstation, Marsflug, das Studium der Erde und die überlegte Nutzung der natürlichen Ressourcen unseres Planeten, sind aber die Eckpfeiler dieser, unserer "Mission Erde". Zum Mond, zum Mars und zurück zur Erde könnte sein Leitspruch gewesen sein, um zu motivieren und Ideen erfolgreich umzusetzen, deren Zeit gekommen ist - ohne zu zögern, konsequent und mit Tatkraft, gemäß seinen Worten von 1977:
"Die Erde und ihre Probleme werden wohl immer das interessanteste Studienobjekt für die Weltraumfahrt der Zukunft bleiben. Aber die Geheimnisse anderer Welten werden ihren Reiz nicht verlieren. Die Verwirklichung vieler neuer Energietechnologien ist noch Zukunftsmusik. Der gesunde Menschenverstand muß uns lehren, hauszuhalten mit der vorhandenen Energie. Sonst könnte die Erschließung neuer Quellen zu spät kommen. Ich vertraue auf die menschliche Vernunft. Sie wird auch das Energieproblem lösen, genau so, wie sie es möglich gemacht hat, daß ein Mensch seinen Fuß auf den Mond setzen konnte |
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