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Hysterische Demonstranten auf den
Straßen, Sammlungen von "Rekruten" für den serbischen Krieg mit der Nat ja sogar Schüsse auf die Moskauer US-Botschaft: Im größten Land Europas herrsch der slawophile Ausnahmezustand, das Land steht kurz vor der Explosion. So müßte meinen wer den Medienberichten Glauben schenkt. Der Schriftsteller und Publizist Ulricht Schach reiste jetzt an die Moskwa, um seinen in den Mühlsteinen des stalinistischen Terror verschollenen Vater wiederzufinden.
Er fand nicht nur ihn endlich wieder, er fand auch ein Rußland, das so gar nichts mi den grellen Bildern gemein hat, die uns seit Kriegsbeginn beinahe täglich von dor präsentiert werden.
I
Reisen in Kriegs-Zeiten, das war bis vor drei Wochen auch soein europäische Bewußtseinsanachronismus. Natürlich, für Vorder- oder Hinterasien Süd- oder Mittelamerika, gar für afrikanische Landpartien durfte man gelegentlich scho einen Gedanken daran verschwenden, wohin denn die Reise noch gehen könnte auße an blendendweiße Strände vor azurblauem Meer, in vollklimatisierte Hotels un angeschlossene Lust-Viertel oder Tempel, Tundren, Tibet-Wunder?! Aber in Europa?
"Ach, Europa!" muß man da wohl mit Hans Magnus Enzensberger seufzen, nu hast du den Schlamassel wieder, und wieder hat sich der Brand auf dem Balkan entzündet und wir reisen wieder in Kriegszeiten oder, von Deutschland aus gesehen, noch bloß wie weil der Krieg bislang ja nur über unsere Bewußtseins-Grenzen gekommen ist als hätten uns unsere Großmütter nicht gewarnt und zumeist auch noch mit den letzten Foto unserer Großväter oder Onkel: in Uniform oder als Kreuze mit Stahlhelm, irgendwo a Rande einer europäischen oder nordafrikanischen Chaussee zwischen Narvik Tobruk, Caen Kreta und Smolensk.
II
Ich komme an dieser Stelle natürlich nicht von ungefähr auf den Namen eine russischen Stadt. Denn nur wenige Tage nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe auf Ziele in Rest-Jugoslawien, um den bösartigen Zeitgenossen Milos?evic´ und seine im Kosov marodierenden Armee-Bataillone und Halsabschneider-Banden zur Räson zu bringen, habe ic mich ins Flugzeug gesetzt, um von Kopenhagen nach Moskau zu fliegen. Aber nicht u touristischen Neigungen zu folgen, um zu arbeiten, flog ich in die Stadt an der Moskwa Aufzuarbeiten die eigene, die ganz persönliche Geschichte, wurzelnd in den Abgründe stalinistischer Zeiten, die mit ihren Echo-Epochen unter Breschnew und Andropow auch ers ein knappes Jahrzehnt vorbei sind. Eine Vater-Suche, meine Vater-Suche mit Hilf eines niederländischen TV-Teams im Rahmen eines Dokumentarfilmprojekts auf ohnehi schwierigem und letztlich unberechenbarem Gelände. Und auch noch in Zeiten des Krieges da Rußland, die einstige Weltmacht, damals und lange nur, aber das denn doch terrorgefestigte und waffenstarrende Sowjetunion, als territoriales und imperiale Schrumpfungsereignis vor den Augen der medialen Weltöffentlichkeit sein ganz spezielle Prinzip Chaos durchlebt! Demütigungsschmerz und Minderwertigkeitskrämpfe eingeschlossen Der Warnungen in meiner Nähe waren einige und nicht gerade ungewichtige: die der Mutter die das stalinistische Gewaltreich zwischen Wismar und Wladiwostok am eigenen Lei durchlitten hatte, der Tochter, die ihre jugendliche Kraft und schöne Unbekümmerthei merklich zu dämpfen begann, je dichter der Abreisetermin herankam, der Freundin, dere Gesicht mit jedem Luftangriffsbild per TV und Reportermeldungen aus Rußland ernster sorgenvoller wurde, schließlich der ungarische väterliche Freund in Schweden, auch e ein Opfer Stalins und Exilant seit 1956, der mir am Tag vor dem Abflug akzentschwer un mit dunklem Lächeln "Viel Glück!" wünschte.
III
Ich gebe zu, daß ich noch im Flugzeug, obwohl hundemüde wegen der üblich zu kurze Nacht zuvor, über all diese Warnungen, Bedenken und magischen Daumendrückereie nachgrübelte. Und ins Wissen um das kleine rote Holzherz der Tochter im Lederrucksack den ganz speziellen Talisman für die Tage im slawischen Bruderreich de Milos?evic´-Bande, mischten sich all die TV-Bilder und -Kommentare der nun hinter mi liegenden Tage der Kriegswahrnehmung von neutralem, also schwedischem Boden aus. Auc hatte ich beim Packen an mehr Medikamente einer für mich lebenswichtigen Sorte gedach als üblich, denn im Ohr hatte ich vor allem nicht so sehr den Maschinen- und Raketenlär der ersten Videobilder von Nato-Pressekonferenzen. Vielmehr klebten mir all jen Korrespondentenberichte im Bewußtsein, die aus Moskau ins deutsche TV-Netz geström waren: Dunkle Sätze über bedrohliche Stimmungen im russischen Volk, beim russische Militär, in der russischen Führung klangen da nach vor den Kulissen des Kreml der Duma, des Weißen Hauses. Bilder vom Protest irgendwelcher Mengen vo Nato-Botschaften; von alarmierten Schwarz- und Eismeer-Flotten, ein schwerfälli scheltender Präsident Rußlands trat auf, ein bekannter Duma-Schreihals in Uniform zeigt seine allerneueste Grusel-Show, schließlich war ein Herr Sjuganow bei dem Versuch zu beobachten, eine moderne kommunistische Führer-Physiognomie aus Stalinschen Härtezüge und Gorbatschowscher Softeis-Mimik unter die Zuschauer des globalen Medien-Dorfes zu bringen. Vor allem aber in die betäubten Hirne aller sozial Deklassierte Rußlands.
Das kann hier vielleicht doch ins Auge gehen, dachte ich deshalb auch, als das Flugzeu zur Landung auf Moskaus Flughafen Scheremetewo ansetzte. Aber dann wurde ich abgelenkt sah unter mir eine weiße Winterlandschaft, gefrorene Flüsse und Seen, hin und wiede reflektierten Metalldächer die Sonne, endlich landete unsere SAS-DC sanft auf de ziemlich frostrissigen Rollfeld, augennah trieb ausgerechnet eine Sabena-Maschine au Brüssel einem Zugangsfinger entgegen und plötzlich stieg in mir ein ziemliche Gedanke auf, dem ich in diesen Tagen durchaus schon etwas eher hätte begegnen sollen: Da erste Opfer in einem Krieg ist immer die Wahrheit!
IV
Nun bin ich kein Pazifist, war nie einer und werde nie einer werden! Ich weiß, daß e an Kriegen in der Regel Schuldige oder Hauptschuldige gibt und damit auch Opfer un Hauptopfer. Ich weiß aber auch, daß der Kampf gegen den Schuldigen wiederum Unschuldig in Mitleidenschaft ziehen kann, daß Opfer plötzlich zu Tätern werden und Täter Opfer Daß es also darauf ankommt, prinzipielle und differenzierte Blicke zugleich zu riskieren und zwar gerade dann, wenn wieder einmal alles klar zu sein scheint.
Was in Moskau zu dieser Zeit vor allem klar war, war das Wetter: Eine Sonne stand übe der Stadt, die nicht nur dafür sorgte, daß der schmutzige Schnee in Parks, Hinterhöfe und auf Prachtplätzen endlich zu schwinden begann. Sie sorgte auch dafür, daß sic Heere schwarzgekleideter Menschen anfingen zu zeigen. Diese Heere formierten sich vo allem im legendären Zentrum der Zehn-Millionen-Metropole, auf dem Roten Platz. Bis wei nach Mitternacht flanierten die vor allem jugendlichen Regimenter zwischen de geschlossenen Lenin-Mausoleum vor der Kreml-Mauer und dem geöffneten Moskau-Center au und unter dem Manege-Platz, um sich und der Welt zu zeigen: die eigene Schönheit, die habituelle Eleganz, den modischen Chic. Wenn Salven erschallten, dann Lachsalven zwische der Fassade des glanzvoll renovierten Kaufhauses GUM und den von Tiefstrahlern erhellte roten Mauern des Kreml. Im Schattenwurf der polierten Totenburg Uljanows, von eine Handvoll gewehrloser Soldaten bewacht, versanken vollends die steinernen Masken de Stalin, Breschnew, Andropow ... Abend für Abend habe ich mich, nach getaner Arbeit von der Magie der Stunde und des Ortes anziehen lassen; habe mich, selbst als das Wette an Ostern noch einmal kühler wurde, immer wieder treiben lassen durch diese Moskaue Nächte und buchstäblich nichts von dem wahrgenommen, was die heimischen Medien in der Woche zuvor aufs Auge gedrückt hatten. Was ich sah, war das hemmungslos-hautnah Tanzen der Jugend in den Diskotheken und Clubs, ihr Flirten und Skaten auf Plätzen un Prospekten zwischen Twerskaja und Lubjanka. Die pausenlose Ankunft und Abfahrt vo Besuchern aus aller Welt in Moskauer Hotels. Geradezu westlich-harmlose Paß- un Zollkontrollen auf dem Flughafen. Tagsüber weniger Bettler, Betrunkene oder aggressiv Gangs als auf den Straßen im Zentrum Hamburgs. Äußerst zuvorkommende und hilfreich russische Offiziere außer und im Dienst, wenn es um meine Aufklärungsarbeit in Moska ging. Differenziert urteilende russische Freunde, die die Bombenangriffe auf Belgrad zwa ablehnten, an Milos?evic´ aber auch kein gutes Haar ließen. Selbst als in jenen Tage ein amerikanischer Stealth-Bomber vom Himmel fiel, abgeschossen von den Jugoslawen mi Hilfe russischer Luftabwehrtechnik, was die Nato zu diesem Zeitpunkt schlicht noc bestritt, veränderte sich die Szene in Moskau nicht: keine Freudenfeste, kein Haßmeetings, keine Zusammenrottungen von Freiwilligen für Serbien. Nur eine Nuance Spot in den Augen meines russischen Freundes blitzte auf: Wir sind doch nicht ganz nichts hieß das wohl. Und das nun war ein Gedanke, der mich durchaus beruhigte. So sehr, da ich mich am Ende meiner Reise, in einem Wagen mit meinem wiedergefundenen Vater, der mic zum Flughafen begleitete, ebenso amüsierte wie er, als er im Verkehrsgewühl de Vorstadtlabyrinths einen klapprigen blauen Bus entdeckte, auf dem grelle Parolen in kyrillischen Buchstaben standen: Schirinowski-Partei, lachte er verächtlich und tippt sich dabei an die Stirn. Das Wort "Idioten", das der Geste folgte, klang har und sicher.
Förslöv, den 12. April 1999
Ulrich Schacht, geboren 1951, wuchs im mecklenburgischen Wismar auf. Im März 197 wurde er verhaftet und im November desselben Jahres zu sieben Jahren Freiheitsentzug wege "staatsfeindlicher Hetze" verurteilt. Im November 1976 erfolgte die vorzeitg Entlassung in die Bundesrepublik.
Seit Beginn der 80er Jahre ist Schacht als Schriftsteller und Publizist tätig. Zuletz erschienen "Mein Wismar" (1994) sowie, zusammen mit Heimo Schwilk herausgegeben das politisch heftig diskutierte Werke "Die selbstbewußte Nation" (1994) un das programmatische Buch "Für eine Berliner Republik" (1997).
Seit September 1998 lebt Ulrich Schacht als freischaffender Publizist in Schweden. |
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