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Am 17. September 2001 haben die deutsche und die polnische katholische Bischofskonferenz durch ihre Beauftragten, die Kardinäle Glemp und Lehmann, eine Vereinbarung unterzeichnet, nach der 3.361 Kirchenbücher katholischer Pfarrgemeinden in mehreren Transporten an die Polen übergeben werden sollen. Darunter befinden sich 604 Bände aus Ostdeutschland, 320 Bände aus Danzig und die 17 Bände aus der Stettiner Pfarrgemeine St. Johannis, also Bestände aus unumstritten deutschen Gebieten. Dieses Vorhaben erinnert an zwei andere Ereignisse. Bald nach Kriegsende erschienen polnische Regierungsvertreter im ausgelagerten Staatsarchiv Königsberg in der Kaiserpfalz Goslar und forderten von der damaligen Besatzungsmacht die Herausgabe der Schriftstücke und Dokumente, die das polnisch verwaltete Masuren betrafen. Die englischen Kulturoffiziere kamen diesem Verlangen nach. Im Jahr 2000 - so berichtet die FAZ - haben die Polen in ihrem Staatsgebiet zurückgebliebene evangelische Kirchenbücher "freihändig" polnischen staatlichen Archiven "zugeschlagen". Mögliche Eigentumsrechte der Evangelischen Kirche Deutschlands oder Polens wurden nicht geprüft.
Zumindest Teile der jetzt zur Übergabe anstehenden Kirchenbücher sind unbestritten deutsches "gemeinsames und nationales Erbe", die im Sinne des Gesetzes dem "Schutz nationaler Gemeinschaften in ihrer von der Geschichte abgeleiteten Identität" dienen. Sie enthalten eine kirchlich geprägte kulturelle Substanz aus den deutschen Vertreibungsgebieten, die in Zukunft in seinen Originaldokumenten der Forschung im deutschen Sprachraum nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Bisher dienten sie in ihrer Ursprünglichkeit der Identitätsfindung und der Freude an der Kultur- und Geschichtsforschung, die unseren Kirchen und unserem Volk nützt.
Minderwertiges Ersatzmaterial
Anstelle der Originale sollen in Zukunft Filme/Mikrofiches als qualitativ völlig unzureichender Ersatz im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg zugänglich sein. Jeder Forscher weiß, daß man derartige Filme kaum über längere Zeitspannen lesen und nur ungenau auswerten kann. Sie sind wegen des Verkleinerungsfaktors oft unscharf, verändern sich, ja zerfallen im Laufe der Jahrzehnte. Die mangelnde Haltbarkeit gilt im übrigen für alle modernen Medien. Nur Ton und gewisse Papiersorten haben sich in ihrem Material als "standfest" über die Jahrhunderte bewährt.
Zumindest zweifelhaft: Eigentum der Pfarreien?
Den Übergabeverhandlungen liegt eine Rechtsauffassung der katholischen Kirche zu Grunde, die von Fachleuten angezweifelt wird. Die oben genannten und zur Auslieferung zur Zeit bereitgestellten Dokumente werden unter Verweis auf das Kanonische Kirchenrecht zum katholischen Kirchengut (Eigentum der Pfarreien) erklärt. Sie seien kein staatlich zu schützendes deutsches Kulturgut. Die staatlichen Gesetze - Paragraph 96 Bundesvertriebenen Gesetz und Paragraph 19 des Gesetzes zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung - kommen deswegen nicht zur Anwendung. Die Kirchenbücher werden deshalb - wenn keine andere Einsicht auf allen Seiten Raum greift - an die katholische Kirche in Polen (Pfarreien / Diözesanarchive) ohne rechtliche Einwände des Staates ausgehändigt. Kulturstaatsminister Dr. Nieda-Rümelin und das polnische Außenministerium haben das Abkommen akzeptiert. Darüber wundern sich viele Vertriebene, darunter auch katholische Pfarrer.
Die Realität: Kulturgut und Kirchengut
Die Kirchenbücher sind nach dem Urteil von Fachleuten nationales Kulturgut und Kirchengut. Das wird unter anderem daran deutlich, daß Kirchenbücher bis zur Zeit der Einführung der Standesämter, die einzigen Unterlagen für die verschiedenen Personenstandsfälle waren. Sie erfüllten eine staatliche Aufgabe. Darüber gab es Regelungen unter anderem im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794. Beglaubigte Abschriften (Zweitschriften) der Kirchenbücher waren an Behörden, in der Regel die Kreis- bzw. Amtsgerichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts abzuliefern.
Nicht zutreffend: Eine angebliche Beschlagnahmeaktion
Das Sekretariat der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz gibt in einem Schreiben vom 20.12.01 zur Begründung der Übergabe an:
"Tatsächlich stammen alle Kirchenbücher, die nunmehr in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren werden, aus einer Beschlagnahmeaktion der Kreisverwaltungen des Deutschen Reiches, die diese während des Zweiten Weltkrieges im Inte-resse des Reichssippenamtes durchgeführt haben."
Eine allgemeine Beschlagnahmeaktion katholischer oder evangelischer Kirchenbücher auf dem deutschen Staatsgebiet gab es nicht. Es gab einen Runderlaß des Reichsministers des Inneren und der Justiz vom 28. Dezember 1942, der die unteren Verwaltungsbehörden im Reichsgebiet (Landrat/kreisunabhängige Städte) ermächtigte und verpflichtete, bei Gefährdung durch Luftangriffe kirchliches Schriftgut an Stelle der kirchlichen Behörden zu sichern, wenn die kirchlichen Stellen dies nicht selbst tun oder tun können. Er entsprach der staatlichen Vorsorgepflicht für den Gefahrenfall und wäre auch ohne die damalige NS-Rassenpolitik in Kraft gesetzt worden.
Nicht stichhaltig: Das Kanonische Recht als Rechtsgrundlage
Zur Zeit der Bildung des Kanonischen Rechts gab es keine völkerrechtswidrigen international geächtete Massenvertreibung, wie wir sie durch den polnischen Staat nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Der sogenannte Codex Juris Canonici enthält folgerichtig aus diesem Grund keine Regelung für den jetzt geplanten Übergabeakt. Trotzdem beruft sich das zuständige Sekretariat am 20.12.01 darauf, in dem der Sachbearbeiter mitteilt:
"Kirchenbücher gehören nach kanonischem Recht nicht einer bestimmten Nation oder Volksgruppe, sondern der katholischen Kirche - konkret den Pfarreien".
Dagegen steht die sachlich richtige Auskunft der katholischen Theologischen Realenzyklopädie im Artikel Pfarrei 1 (Bd. 26, S. 344) anders dar: "Im Sinne der Institutentheorie kommen als Eigentümer die juristischen Personen auf Pfarrebene in Betracht. Herkömmlicherweise wird in der Regel die Pfarrkirchenstiftung (fabrica ecciesiae) mögliche Eigentümerin und Rechtsträgerin sein".
Nur Diskussionsgrundlage: Eine Rechtstheorie
Es handelt sich um eine (Rechts)Theorie - und nicht um gesetztes Recht - die als Grundlage für das Übergabe-Abkommen vom 17.09.01 herhalten muß. Regelwidrig wäre dann, daß sich die katholische Kirchenverwaltung an diese Theorie nicht hält. Die Kirchenbücher werden nicht an die katholischen Pfarreien im ehemaligen deutschen Staatsgebiet übergeben, sondern an nach dem Krieg teilweise neu begründete polnische Diözesanarchivverwaltungen.
Vernichtet: Die Pfarreien?
Es gibt in Ostdeutschland nur in Einzelfällen eine deutsche katholische Restbevölkerung. Im Ermland mit ehemals 375.000 Katholiken leben heute maximal ein Prozent als deutsche Minderheit. In anderen Bereichen sind die Zahlen ähnlich. Das ist ein Drama. Die Ermländer leben im Westen. Sie sind 55 Jahre nach Flucht und Vertreibung eine treue und aktive Gemeinde der katholischen Kirche in der Bundesrepublik. Sie treiben eine beispielhafte kirchenhistorische Forschung. Sie brauchen in erster Linie Arbeitsmaterial im Original.
Ohne Erfahrung: Die Nutzungsbestimmungen
Nicht ohne Grund sind in dem Abkommen detaillierte Nutzungsbestimmungen festgelegt. Sie signalisieren, daß in der Zukunft mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Nutzung gerechnet wird. Die Erfahrungen beim Zugang zu deutschsprachigen Archivalien in polnischen Archiven sind schlecht. Beglaubigungen mit rechtlicher Relevanz - zum Beispiel beim Nachweis von Erb-rechten im Rahmen eines europäischen Rechtes - dürften in Zukunft nur noch von polnischen Diözesanarchiven (zögerlich? falsch? mit polnischen Orts- und Vornahmen usw.?) als Inhaber der Originalurkunden ausgestellt werden. Es entstehen unzumutbare Reise- und Aufenthaltskosten. Das alles wäre nicht nur eine erhebliche Verletzung der Persönlichkeitsrechte, sondern das birgt Sprengstoff für die Zukunft!
Entwicklungsfähig: Das Herkunftsprinzip
Das Territorialprinzip ist ein anerkannter und nachvollziehbarer Begriff in der Archivwissenschaft. Es hat sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, daß dieses Prinzip zurückzutreten habe, wenn die Mehrheit einer Bevölkerung aus einem Gebiet vertrieben wurde. Hier gilt ein personales - und nicht das territoriale - Herkunfts-prinzip. Dieses andere Verständnis muß auch der Deutschen Bischofskonferenz bekannt gewesen sein.
Ohne Feingefühl: Die Kirchenleitung.
Die katholische Kirchenleitung setzt sich mit dem Übergabeabkommen über den Geist der oben genannten gesetzlichen Bestimmungen hinweg. Es wurden die Interessen und Empfindungen der katholischen heimatvertriebenen Kirchenmitglieder zugunsten einer anfechtbaren, formalen Rechtsposition verletzt. Dieser Geist offenbart sich zusätzlich darin, daß der Visitator Ermland/Ostdeutschland am 25.01.02 in einem persönlichen Brief mitteilt: "Zu meinem Bedauern hat die Deutsche Bischofskonferenz mit den betroffenen Visitatoren keine Rücksprache gehalten. Ich habe von dem Vertrag auch erst aus der Presse erfahren und dann den Vertragstext auf Umwegen erhalten." Es wäre im Sinne einer europäischen Zukunft von der Überlassung originär deutscher Kirchenbücher, die Kultur- u n d Kirchengut sind, Abstand zu nehmen und eine Klärung dem weiteren Verlauf einer hoffentlich guten gemeinsamen Geschichte zu überlassen.
Der Autor ist ev. luth. Pfarrer i. R., geboren in Königsberg/P |
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