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Tochter der Kant-Stadt

 
     
 
Im Jahre 1924 fand in Königsberg das erste große internationale kulturelle Fest statt, das in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg gefeiert wurde. Teilnehmer reisten von weit her an, sie kamen sogar von Amerika und Asien. Der Anlaß für diese aufwendigen mehrtägigen Festlichkeiten war der 200. Geburtstag des großen Philosophen Immanuel Kant, dessen Grabmal an der Giebelseite des Königsberger Dom
s neu gestaltet und feierlich eingeweiht wurde - in der Form, wie es den Zweiten Weltkrieg überdauerte und heute noch für die Bevölkerung im russischen Kaliningrad eine vielbesuchte Gedenkstätte ist.

Am dritten Tag der Kantfeier, am 22. April, dem Geburtstag Kants, folgte als Höhepunkt ein Festakt im Königsberger Stadttheater, bei dem die Universität 13 Persönlichkeiten die Ehrendoktorwürde verlieh. Eine von ihnen war die Dichterin Agnes Miegel, damals gerade 45 Jahre alt und doch schon mit ihrem lyrischen Werk so bekannt, daß sie in Schulbüchern und Literaturgeschichten bereits einen festen Platz hatte.

Ihre Ernennung zum Dr. h. c. löst allgemein Jubel aus, bei den Festgästen im Saal und in der breiten Öffentlichkeit, die davon in zahlreichen deutschen Zeitungen liest. In der Königsberger Hartungschen Zeitung steht am folgenden Tag zu lesen: "Eine mutige Tat der Fakultät! Denn es war durchaus noch nicht allgemein, daß ein ‚Unstudierter und dazu noch eine Frau um allgemeiner Verdienste willen den Doktortitel erhält."

Die Geehrte selbst war zuerst stolz auf die Auszeichnung, aber in späteren Jahren erklärt sie mit der ihr eigenen Bescheidenheit: "Ach, ich hatte ja keine wissenschaftlichen Werke geschaffen - ich bekam den Doktortitel aufgrund meiner Gedichte. Und ich war deshalb stets so etwas wie ein uneheliches Kind der Alma mater, aber wie die meisten unehelichen Kinder habe ich die Mutter sehr geliebt!"

Agnes Miegel wurde am 9. März 1879 auf dem Kneiphof in Königsberg geboren, in unmittelbarer Nähe des Domes, dessen ehrwürdige Glocken bereits in ihren ersten Erdenschlaf klangen. Ihr Vater, dessen Familie generationenlang in Königsberg ansässig war, führte seine kleine Tochter durch die Stadt und erzählte unermüdlich, welche historischen Ereignisse mit den verschiedenen Bauwerken verbunden waren.

So hörte das Kind immer wieder den Namen Immanuel Kant und begann so seine Bedeutung zu ahnen. Der Name des Philosophen war damals noch lebendig in Königsberg, sogar in den Rufen der Marktfrauen, die einander zur Frühstückszeit um 9 Uhr 15 zuriefen: "Is Kandis Tied!" - bezugnehmend auf die zuverlässige Pünktlichkeit des hochberühmten Philosophieprofessors, doch das Wort war zur festen Redensart geworden und hatte sich so verselbständigt, daß sie viele Jahrzehnte nach Kants Tod seine Bedeutung nicht mehr kannten.

1901 erscheint Agnes Miegels erster Gedichtband, im gleichen Jahr werden etliche ihrer Gedichte und Balladen im Göttinger Musenalmanach auf 1901 gedruckt. Besonders ihr aufsehenerregendes Balladenschaffen begründet ihren literarischen Ruhm und verschafft ihr einen großen Namen, der bis heute in Literaturgeschichten nachzulesen ist. 1907 und 1920 erscheinen ein zweiter und dritter Band mit Lyrik, Balladen und Spielen. Erst Mitte der 20er Jahre wendet sie sich auch der Prosa zu und veröffentlicht im Laufe der nächsten Jahrzehnte zahlreiche Bände mit Erzählungen, unter denen die historischen Erzählungen einen besonders hohen Rang einnehmen.

Um viele historische Persönlichkeiten aus Ostdeutschland und der halben Welt ranken sich ihre Balladen und Erzählungen, aber Immanuel Kant ist nicht darunter. Dennoch ist seine Gestalt, seine Lehre, seine Präsenz in ihrem Leben allgegenwärtig wie Heimatluft. Von den Angehörigen der Familie Miegel berichtet sie, daß sie ihre "eigensten geistigen Angelegenheiten wie die äußeren nach dem unmoralischen Gesetz in sich" regelten und spricht von ihrem "kantischen Pflichtgefühl sich und der Umwelt gegenüber". Noch in ihrer Altersheimat Bad Nenndorf hängt sie im Wohn- und Arbeitszimmer ein Kant-Bildnis an die Wand, Zeichen für höchste Anforderungen an sich selbst. Ein anderer Wandschmuck in ihrem Zimmer zitiert Kants berühmte Worte: "Zwei Dinge erfreuen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."

Im Kant-Jahr 1924 feierte Königsberg noch ein anderes Jubiläum: die zweihundertjährige Wiederkehr der Vereinigung seiner Teilstädte Altstadt, Kneiphof und Löbenicht am 13. Juni. Agnes Miegel schrieb zu diesem Anlaß ein großes Gratulations- und Festgedicht mit dem Titel "Königsberg", und darunter stand: "Meiner Vaterstadt zum 13. Juni 1924 gewidmet von ihrer Tochter Agnes Miegel." Sie schildert darin Szenen und Stationen aus der Stadtgeschichte und setzt Kant ein Denkmal - nicht seiner Person, sondern seiner Lehre, wie sie im Volk lebendig verankert war. Auf das königliche Diktum "Pflicht" und die bange Frage "Wie wirst Du und Preußen bestehen?" schreibt die Bevölkerung der einst zerstrittenen Teilstädte, die in Zeiten der Not zusammenwächst, "ein Wort darüber. Ein einziges. ‚Kant ." Der Name allein sagt alles über die Gesinnung und Beweggründe, die dazu beitrugen, daß sie "bestanden, wie Preußen bestand". Und noch heutzutage liegt Hoffnung und eine große Vision in diesem Namen, wenn Professor Wladimir Gilmanow ihn bei seinen Königsberger Stadtführungen nennt, den kategorischen Imperativ zitiert und an das "Moralische Gesetz in uns" appelliert, das allein eine bessere Zukunft für die verarmte Stadt und das Gebiet ermöglichen könne.

Wenn nun im Kant-Kahr 2004 nicht nur an die Persönlichkeit Immanuel Kant und seine großen philosophischen Werke, sondern auch an seine zeitlosen Lebensweisungen erinnert wird, die auch heute noch jedem Schüler zumindest in ihrer einfachsten Form ein Begriff sind und für die ältere Generation die Grundlage, mit der sie ihr Leben gemeistert hat, dann erinnern wir uns auch an Agnes Miegel, die berühmte Tochter der Kant-Stadt Königsberg, deren Geburtstag sich am 9. März zum 125. Male jährt.

"Was wird von mir wohl bleiben?" fragte sie in einem Altersgedicht. Ihre großen Balladen und Erzählungen sind längst nicht mehr in den Schulbüchern vertreten, aber in Bad Nenndorf treffen sich die Brautpaare zum Foto-Termin an der Agnes-Miegel-Statue im Kurpark, so wie in Königsberg die Brautpaare zum Sekt-empfang und Fototermin zum Kant-Grab am Dom pilgern. Die Orte, die ein Brautpaar an seinem Hochzeitstag aufsucht, werden mit Bedacht ausgewählt und bleiben im Gedächtnis. Ihrer Bedeutung spüren die Betreffenden vielleicht erst in viel späteren Jahren nach.

Tiefe Kenntnisse sind nicht die Voraussetzung für den guten Klang und die Popularität eines Namens, so wie die Marktfrauen in Königsberg von "Kandis Tied" sprachen und doch kein Buch von dem gelesen hatten, auf den sie sich bezogen. Ob die Nenndorfer Hochzeitspaare mehr über die Dichterin wissen, deren Namen mit der Statue verbunden ist?

Unter dem Titel "Agnes Miegel - Leben und Werk" ist von der Autorin im Husum Verlag eine neue Biographie erschienen (128 Seiten, zahlr. Schwarzweißabb., broschiert, 6,95 Euro).

Agnes Miegel: Die junge Dichterin, gesehen von dem Bildhauer E. Hackländer (die Bronze wurde 1994 im Kurpark von Bad Nenndorf enthüllt), und als Kind (links)
 
     
     
 
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