|
Im 16. Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands steht an der Spitze der deutschen Regierung nicht nur erstmals eine Frau, es ist auch eine Deutsche, die bis zum Untergang der SED-Diktatur deren Bürgerin war. Daß sie ihren Weg durch diese Diktatur nicht im Widerstand dagegen zurückgelegt hat, hat ihr beim Aufstieg im bundesrepublikanischen Parteienestablishment eher genützt. Die deutsche Politik-Mentalität konnte mit politischen Widerstandskämpfern noch nie viel anfangen. Die von ihr begründeten politischen Strukturen vertrauen in der Regel den Angepaßten, Unauffälligen, den unter allen Umständen Funktionierenden, und der Aufstieg der 68er ist hier gerade kein Gegenbeispiel, sondern, sozialphänomenologisch gesehen, Konsequenz eines gesamtgesellschaftlichen Opportunismus-Exzesses, der sich an der Figur Fischer geradezu idealtypisch zeigt: Die Wohlstandsprotestler riskierten nichts und gewannen alles. Ihre Fähigkeit, sich den Staat zur Beute zu machen, teilen sie mit den von ihnen so lange so verachteten Funktionären der etablierten Parteien. Inzwischen genießt man gemeinsam und bescheinigt sich gegenseitig "demokratische Reife". Glaubwürdige Widerstandskämpfer dagegen, man denke nur an den Umgang mit der militärischen Opposition gegen Hitler, sind bis heute Zielscheiben ideologisch getränkter Haßanalysen. Mal kommen sie von rechts, mal von links, mal aus der pseudoliberalen Mitte - aber immer aus tiefstem Neid auf die moralische Stärke desjenigen, in dem sich nichts als die eigene Schwäche spiegelt.
Vor solchem geschichtlichen Hintergrund waren und sind deutsche Walesas oder Havels geradezu undenkbar.
Angela Merkel ist da schon das Optimum. Von der ins wiedervereinigte Deutschland geretteten Kaderreserve II der SED und der Tatsache, daß sie in Schwerin und Berlin munter mitregieren darf, ganz zu schweigen. Auf dieses eher unschöne Deutschlandpanorama kommt man, wenn man ein anderes anschaut, das kürzlich in der Berliner Landesvertretung Sachsen-Anhalts ausgebreitet wurde und sich wie ein totales Kontrastprogramm dazu verhält: Dort präsentierte die Robert-Havemann-Gesellschaft unter dem Titel "Für ein freies Land mit freien Menschen" eine Art Anti-Helden-Fibel, die "in Biographien und Fotos" über "Opposition und Widerstand" in der DDR Auskunft gibt.
Was das über 400 Seiten starke spannende Geschichtsbuch ganz besonders auszeichnet, ist die Tatsache, daß seine Herausgeber zum einen die Kontinuität des politischen Widerstands gegen die SBZ / DDR aufzeigen, indem sie allen seinen Perioden Gesichter geben, die Menschen zeigen, denen die Verteidigung der Freiheit nicht nur eine Phrase wert war, sondern den Einsatz der eigenen Existenz - bis zum Tod, wenn man nur an die in Moskau hingerichteten Arno Esch und Walter Linse denkt, an den von MfS-Mördern an der innerdeutschen Grenze exekutierten Michael Gartenschläger (die Täter wurden von der bundesdeutschen Justiz nie verurteilt). Oder an Pfarrer Oskar Brüsewitz, der historischen Gegengestalt zu Manfred Stolpe im Bereich der evangelischen Kirche. Zum anderen, was heute fast noch schwerer wiegt, haben die Herausgeber keinerlei zeitgeistideologische Raster bei der Auswahl der Biographien angelegt. Es geht wohltuend objektiv zu in diesem deutschen Geschichtsbuch der Sonderklasse: Die politischen Überzeugungen der Freiheitskämpfer, ihre Entwicklung nach den dramatischen Zäsuren, die sie in Lager, Gefängnisse oder ins westdeutsche Quasi-Exil führten, werden registriert, nicht gewertet. Es regiert allein der Respekt vor Menschen und ihrer Bereitschaft, einer weiteren deutschen Diktatur mit dem Mittel des Geistes, nicht der Gewalt, offen und öffentlich zu widerstehen. Immerhin von einer der Frauen in diesem Buch, Freya Klier, weiß man, daß Angela Merkel sich gelegentlich etwas erzählen läßt. Da Freya Klier nach wie vor keine Schönrednerin ist, spricht das gewiß für beide.
Deutschland hat ein Problem mit Widerstandskämpfern
Geschichtsbuch der Sonderklasse ehrt DDR-Kritiker |
|