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Für die Republik Polen ist Stettin, früher Pommerns Provinzhauptstadt, die am weitesten westlich gelegene Großstadt. In Berichten aus der Zeit vor 1945 ist davon die Rede, daß theaterbegeisterte Stettiner nachmittags mit dem Zug zur Vorstellung nach Berlin und anschließend wieder nach Hause fuhren.
Heute ist eine vergleichbare Freizeitplanung unmöglich, denn seitdem die Deutsche Bahn im vergangenen Jahr die Direktverbindung eingestellt hat, benötigt man für die knapp 150 Kilometer drei Stunden. Gegen diesen stumpfsinnigen Pragmatismus kann Kulturpolitik wenig ausrichten.
Und doch gibt es zum kulturellen Brückenschlag keine Alternative. Denn noch immer, so Slawomir Tryc, Direktor des polnischen Kulturinstituts in Berlin, kürzlich in der Berliner Presse, würden die Polen in Deutschland vor allem als potentielle Schwarzarbeit er oder Kleinkriminelle angesehen. Das Polenbild der Deutschen müsse "dringend entstaubt" werden.
Auch zu diesem Zweck werden seit einigen Jahre die "Stettiner Tage" in Berlin veranstaltet. Das Faltblatt, das von einem "Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Berlin-Stettin" herausgegeben wurde, trägt wie selbstverständlich die Aufschrift: "Stettin in Berlin". Zum Programm gehören Kunstausstellungen, Lesungen, klassische und moderne Konzerte.
Stettin ist die Partnerstadt des Berliner Stadtbezirks Friedrichshain/Kreuzberg. In dessen Hauptbibliothek wurde die Ausstellung: "Karkutschstraße ul. Sw. Wojciecha. Die Geschichte einer Straße in Stettin" eröffnet.
Die Karkutschstraße wurde nach dem Großhändler Ferdinand August Ludwig Karkutsch (1813 - 1891) benannt, der seiner Stadt testamentarisch 300 000 Mark für den Bau eines Museums und einer Lungenheilanstalt vermachte. Für die Ausstellung empfiehlt sie sich, weil sie zu den wenigen Stettiner Straßen gehört, die ihr Antlitz über den Krieg hinaus bewahrt haben.
Mit ihrer zentralen Lage, den Kirchen, einem Hebammeninstitut (in dem heute ein Kinderkrankenhaus untergebracht ist), dem Pommerschen Staatsarchiv und repräsentativen Wohnungen war und ist sie von großer kommunaler Bedeutung. Die Ausstellung imaginiert einen virtuellen Spaziergang durch Raum und Zeit und zeigt, in fast collageartiger Montage, eine Fülle alter und neuer Fotos, Dokumente, Zeitungen. Neben der Architektur wird auch das Innere der Häuser in den Blick genommen.
Die beabsichtigte Aussage ist klar: Ein Ausschnitt wird gezeigt, der symbolisch auf die ganze Stadt schließen läßt. Es geht um das Ineinander von deutscher Geschichte und polnischer Gegenwart, von einer interkulturellen Realität, in der die Zeitebenen sich überlagern.
Es reicht nicht, die herrlichen Gründerzeithäuser zu sanieren und mit Galerien, Ateliers, Antiquitätengeschäften oder Firmenzentralen zu füllen. Um sich darin zu Hause zu fühlen, von ihnen inspiriert zu werden, muß man ihre Geschichte kennen. Das große historische Pathos, das die Reden über die deutsch-polnischen Beziehungen durchzieht, wird hier erfolgreich in die Alltagssprache übersetzt.
Doch wird sie in Deutschland leider nur verstehen, wer der Erlebnisgeneration angehört oder sich aus familiären, touristischen oder wissenschaftlichen Gründen ohnehin mit der Stettiner Architektur und Geschichte befaßt.
Die Austellung ist ursprünglich für ein polnisches Publikum konzipiert. In Deutschland sind die Geschichtskenntnisse, gerade im Hinblick auf die alten Ostgebiete, so gering, daß ein Zufallsbesucher kaum begreift, welche psychologische Entkrampfung in den deutsch-polnischen Beziehungen diese Ausstellung widerspiegelt.
Der wichtigere Beitrag ist deshalb wohl der Katalog, eigentlich ein Hochglanz-Bildband in polnischer, deutscher und englischer Sprache, der auch einen stadtgeschichtlichen Abriß bietet. In den Passagen über Flucht und Vertreibung verzichtet er auf die ärgerlichen, verharmlosenden Formulierungen, die bis vor wenigen Jahren üblich waren und die den Dialog zwischen Deutschland und Tschechien bis heute vergiften.
Mit Recht verweisen die Verfasser darauf, daß die polnischen Neuansiedler in Stettin oft selber Vertriebene aus Ostpolen waren. Genauso klar heißt es aber: "Bis Ende des Jahres 1947 wurden rund 57 600 Deutsche aus Szczecin in die sowjetische und die britische Besatzungszone vertrieben. (...) Die Grenzen zwischen geregelter Aussiedlung und brutaler Vertreibung waren dabei oft fließend, abhängig vom Willen der regional verantwortlichen Machthaber."
In einer nächsten Stettin-Ausstellung müßten dem deutschen Publikum ein paar Eselsbrücken gebaut werden: Alfred Döblin müßte genannt werden, Verfasser von "Berlin Alexanderplatz" und gebürtiger Stettiner. Einer der populärsten deutschen Operettenkomponisten, Leon Jessel, stammt ebenfalls aus Stettin. Der Schauspieler Heinrich George, der Bildhauer Bernhard Heiliger und der Baumeister David Gilly wurden hier geboren.
Man müßte damit beginnen, daß die deutsche Kultur ohne ihre Stettiner Künstler wesentlich ärmer wäre. Wenn die Besucher sehen, daß die Vergangenheit Stettins sie etwas angeht, werden sie sich für seine Gegenwart erst recht interessieren.
Die Ausstellung in der Hauptbibliothek des Bezirks Friedrichshain/Kreuzberg, Grünberger Straße 54, 10245 Berlin ist noch bis zum 31. Mai geöffnet
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