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Die Wende von 1989/90 regenerierte in Europa nationalstaatliches Denken, das vielen obsolet erschienen war. Gleichzeitig strömen fortgesetzt Immigranten aus der Dritten Welt nach West- und Mitteleuropa. Alte Muster historisch-politischer Identität stoßen auf die Vision der „multikulturellen“ Gesellschaft, und beide Prinzipien rasen scheinbar wie D-Züge in die jeweils entgegengesetzte Richtung.
In dieser Lage können Geschichts wissenschaftler wichtige Argumente zur Diskussion beitragen. So jedenfalls formuliert der US-amerikanische Historiker Patrick J. Geary sein Anliegen in dem Buch „Europäische Völker im frühen Mittelalter“. Geary, der über die Merowingerzeit publiziert hat, verurteilt die Tatsache, die ihn wie ein Albtraum belastet, daß vor allem in Osteuropa „wieder einmal traditionelle Ansprüche auf nationale Souveränität erhoben“ werden. Die Immigration in den reichen, westlichen Teil Europas wiederum provoziere die Frage, ob Parallelen zwischen Spätantike und Gegenwart zu finden seien. Ähnelten die Germanen heutigen Gastarbeitern und Asylanten?
Jene, die laut Geary die „nationalistische und rassistische Agenda“ neu aktivieren, tun dies nicht nur deshalb, weil sie wissen wollten, wie die befürchtete „Zerstörung der europäischen Zivilisation durch neue barbarische Horden“ zu verhindern sei. Der historische Rückgriff in das Frühmittelalter solle mehr noch die Behauptung der „Kulturchauvinisten“ legitimieren, daß ihre Vorfahren „in Europa auftauchten, um ein für allemal geheiligte und unveränderbare Territorien zu erobern“. Sie zeichneten das Bild einer singulären Landnahme im Frühmittelalter, die eine ungebrochene und ewige Kontinuität erzeugt habe.
Geary nun will die These belegen, daß die heutige Immigration Europas „Rückkehr zu einer weit älteren ethnischen Vielfalt“ darstelle. „Europa beginnt tatsächlich, sich seiner Vergangenheit wieder zu nähern.“
Antike Historiker, besonders Herodot, hätten den Volksbegriff geschaffen. Die „eigentliche Geschichte“ europäischer Nationen beginne erst im 18. und 19. Jahrhundert und sei im wesentlichen von Intellektuellen erfunden oder instrumentalisiert worden. Fichte konstruierte die deutsche Nation, indem er antike Vorgänge mystifizierte und die Franzosen Napoleons I. mit den römischen Gegnern des Arminius verglich. Zahlreiche Philologen, welche die Existenz einer „germanischen Sprachfamilie“ behaupteten, sekundierten Theoretikern wie Fichte und Herder. Alle wollten sie Forderungen nach nationaler Einheit und Souveränität legitimieren.
Im Hauptteil des Buches beschreibt Geary den Prozeß der Umwandlung der Antike ins frühe Mittelalter, eine der fundamentalsten Zäsuren aller Zeiten. Aus dem Chaos der Völkerwanderung ging das Frankenreich hervor, welches Germanen und Römer verschmolz.
Neu ist diese Darlegung zwar nicht, wohl aber die Art und Weise, in der Geary bekannte Tatsachen interpretiert. Taugen die Franken als Maßstab heutiger Immigration? Damals gab es weder ein germanisches noch ein römisches „Volk“, sondern nur einige Gruppen und Stämme ohne besondere kennzeichnende Identität. Im heutigen Europa, wo alte und tief verwurzelte Kulturen und Völker zusammentreffen, bestehen völlig andere Voraussetzungen. Nirgends addie- ren sich beispielsweise Deutsche und Türken zu einem anderen „Volk“.
Nicht minder fragwürdig erscheint Gearys These, wonach die Nationen erst dem 19. Jahrhundert entsprungen seien. Sogar er betont, daß bereits im frühmittelalterlichen „Deutschland“ manche Autoren „gelegentlich von einem deutschen Volk“ schrieben. Leider erklärt Geary nicht, wie er diesen auffälligen Widerspruch aufzulösen gedenkt. Auch der Begriff „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“, formuliert im 15. Jahrhundert, stützt Gearys Thesen nicht. Weit stärker noch war im Mittelalter das Nationalbewußtsein der Franzosen und Engländer konturiert. Keineswegs verläßt das „19./20. Jahrhundert“ den Rahmen der Geschichte; eher fand ein Umbruch des gesamten Denkens ins Säkulare statt.
Der Autor unterliegt einem fundamentalem Mißverständnis, insofern er jegliche nationale Selbstbestimmung, die in zwei Welt- kriege gemündet habe, für illegitim und latent barbarisch hält. Wilhelm II. und Hitler sind schlechte Zeugen; beide lehnten die Grundsätze nationaler Autonomie kategorisch ab. Hitler erstrebte ein „germanisches Reich deutscher Nation“ und setzte damit Traditionen fort, die weit vor dem 19. Jahrhundert lagen. Imperialisten, von Karl dem Großen bis Napoleon I., bestritten seit jeher nationale Eigenrechte.
Unablässig tadelt Geary seine Kontrahenten, die er selten beim Namen nennt, weil ihnen das „Verständnis für das eigentliche Merkmal der Geschichte, nämlich für Veränderung“, fehle. Letztlich rennt Geary offene Türen ein, wenn er betont, daß heutige europäische Völker anders beschaffen seien als vor 1.000 Jahren. Identität und Veränderung schließen einander nicht aus. Schon die Abfolge der Generationen bedingt ständigen Wandel; aber jede Generation steht auf dem Boden der Vergangenheit. Geschichte, wie wir sie kennen, mischt Kontinuität und Wechsel; gäbe es nur eines dieser Elemente, entstünde keine Historie. Bloße Diskontinuität macht den Menschen zur Eintagsfliege, die jenseits historischer Zusammenhänge lebt. Daher kann man Geary vorwerfen, daß er selbst radikal unhistorische Kategorien anwendet.
Vermutlich transponiert der kalifornische Missionar Geary spezifische Identitäten der USA in das ferne Europa und mißachtet dabei sorglos fremde Entwick-lungslinien.
Selbstverständlich ändern sich auch die Formen des Wandels. Geschichtliche Prozesse des Frühmittelalters waren nie demokratisch legitimiert. Daher schimmert bei Geary, der uns die Spätantike schmackhaft machen will, nackte Barbarei durch. Nichts könne garantieren, daß „die Nationen von heute nicht vollständig untergehen“. Damit hat Geary zweifellos recht; jedoch wäre dies nur dann zu akzeptieren, wenn die Mehrheit eines Volkes die eigene Auflösung beschließt. Denn jede Nation konstituiert sich mittels eines täglichen Plebiszits, wie Ernest Renan erkannt hat. „Die Geschichte“ ist keine vom Willen des Menschen losgelöste Macht.
Geary begeht einen Fehler, den wissenschaftliche Historiker tunlichst vermeiden sollten. Er repräsentiert ideologische Positionen, ganz ähnlich, wie eifernde mittelalterliche Geschichtsschreiber es taten. Rolf Helfert
Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Reihe Europäische Geschichte, hrsg. von Wolfgang Benz, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, 222 Seiten, 12,90 Euro
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