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Literatur ist, das weiß man längst, das Gedächtnis der Völker, und sie ist es in viel weiterem Umfang, als es die Geschichtsschreibung je sein kann. Was bleibt aber, so muß man fragen, von den spezifischen Lebensverhältnissen der Oberschlesier beispielsweise in Gleiwitz, der Instleute auf den ostdeutschen Gütern, der Fischer auf der Kurischen Nehrung ? Ist das alles sang- und klanglos untergegangen, als hätte es niemals sieben Jahrhunderte lang existiert?
Mitnichten! Die unzähligen Romane, Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Dramen, Filme zeugen von einer gewaltigen Trauerarbeit, wie sie seit über einem halben Jahrhundert in Westdeutschland und auch, zeitlich versetzt, im mitteldeutschen SED-Staat geleistet wurde.
Sie wiegt schwerer als der Aufmarsch der Bedenkenträger, der sich immer wieder in der Politik und an den Universitäten bemerkbar macht. Beispielsweise so, daß Eberhard Diepgen, der Regierende Bürgermeister von Berlin, sich weigert, den Berliner Ostbahnhof in "Schlesischen Bahnhof" umzubenennen, wie er bis 1945 geheißen hat, obwohl die Parteibasis sich dafür ausgesprochen hat und obwohl es in Berlin bis heute einen U-Bahnhof "Schlesisches Tor" gibt.
Oder nehmen wir das "Institut für Zeitgeschichte" in München, das sich in vier Jahrzehnten Forschungsarbeit nur dreimal mit dem Thema "Flucht und Vertreibung" auseinandergesetzt hat, sonst aber diesen Stoff beiseite schob.
Aus jüngster Zeit fällt einem zuvorderst die Rotstiftpolitik des Kulturbeauftragten Naumann ein. Dieser sagte in der Bundestagsdebatte zur Errichtung des Holocaust-Denkmals in Berlin: "Jeder Mensch lebt kraft seiner Fähigkeit, sich zu erinnern. Das Leben in reiner Gegenwart gibt es nicht. Eine Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Geschichte verweigert, vergißt sich selbst. Sie schließt vor der Welt die Augen, sie wird blind."
Das war richtig, ist beherzigenswert und eigentlich eine Selbstverständlichkeit! In eine Schieflage gerät die Aussage aber dadurch, daß sie ausschließlich auf die deutsch-jüdische Geschichte bezogen bleibt, die Geschichte Schlesiens, Pommerns, Westpreußens und Ostdeutschlands aber verdrängt und ausgeklammert wird. In diesem Sinne ist auch Naumann ein Geschichtsverweigerer, der die Augen schließt und zu erblinden droht.
Andererseits sollte man nicht vergessen, mit welcher Begeisterung in den 70er Jahren die großen Romane oder Romanzyklen von Horst Bienek über Oberschlesien, Siegfried Lenz und Arno Surminski über Ostdeutschland, Leonie Ossowski über Niederschlesien, Christine Brückner über Pommern und Peter Härtling über Böhmen und Mähren aufgenommen wurden.
Alle diese Bücher sind vielfach gelesen und rezensiert worden, einige von ihnen auch verfilmt, aber die Hochschulgermanistik in Westdeutschland hat sie dennoch weitgehend ignoriert. Immerhin gibt es seit 1991 an der Leipziger Universität einen Lehrstuhl "Deutsche Literatur und Sprache im östlichen Europa", den Prof. Dr. Carola Gottzmann vertritt.
Ganz allgemein scheint bei der Bevölkerung in den neuen Bundesländern die Auseinandersetzung mit "Flucht und Vertreibung" jetzt nachgeholt zu werden. Dies fängt an bei der Rezeption der wissenschaftlichen Leistungen des Magdeburger Historikers Manfred Wille, der im April 1990 zur ersten DDR-Tagung zu diesem Thema eingeladen hatte.
Vor wenigen Monaten erschien von Professor Wille der zweite Band einer Dokumentenreihe über "Die Vertriebenen in der SBZ/DDR" unter dem Titel "Massentransfer, Wohnen, Arbeit 1946-1949". Der erste Band "Ankunft und Aufnahme 1945" war 1996 veröffentlicht worden, ein dritter mit dem Titel "Im Blickfeld von Behörden, Parteien, Organisationen. Lösung der Umsiedlerfrage 1949-1955" ist für nächstes Jahr in Arbeit.
Größere Breitenwirkung erzielt die literarische Aufarbeitung, die interessanterweie von 1984 bis 1986, also noch während der SED-Herrschaft, einen ersten Höhepunkt erreichte. Erinnert sei an Elisabeth Schulz-Semraus "Suche nach Karalautschi", bei der es um eine Vergegenwärtigung des Königsbergs der Kinderjahre geht. Auslöser für das Zustandekommen des Buches war der Ärger der Autorin, daß ihr drei Besuchsanträge für die Geburtsstadt abgelehnt wurden.
Allerdings hätte man Schulz-Semraus Werk keinem DDR-Verlag anbieten können, wenn der Titel "Suche nach Königsberg" gewesen wäre. Da sich die Verfasserin die offizielle Sprachregelung "Kaliningrad" nicht zumuten wollte, verfiel sie auf den Ausweg, den litauischen Namen "Karalautschi" zu nehmen, so wie ihre litauische Kinderfrau die Heimatstadt zu nennen pflegte.
Ein Jahr später, 1985, erschien Ursula Höntsch-Harendts Roman "Wir Flüchtlingskinder" fortgesetzt nach der Wende mit "Wir sind keine Kinder mehr". Bei dem ersten Titel ist zu bedenken, daß der Begriff "Flüchtlinge" für die 4,1 Millionen in die Sowjetische Besatzungszone gelangten Ostdeutschen in der DDR-Zeit als nicht erlaubt galt. Damals hatte man immer von "Umsiedlern" zu sprechen.
Wiederum ein Jahr später erschien das bisher überzeugendste Buch zum Thema, der Roman "Der Puppenkönig und ich" von Armin Müller über einen alten Schlesier im Eulengebirge, der sich 1945 aufhängt, weil er seine Heimat nicht verlassen will. Die ganze Thematik wird geschildert aus der Sicht des 16jährigen Enkels, der mit einem gleichaltrigen polnischen Soldaten durch die zerstörten Kriegslandschaften Polens und Ostdeutschlands wandert. Armin Müller bekam zu diesem Werk mehr Leserbriefe als zu allen seinen vorheri-gen Büchern zusammengenommen.
Nach 1989 sind dann eine Fülle weiterer romanhafter Verarbeitungen von "Flucht und Vertreibung" auf den Markt gekommen, aber auch Sachbücher, Essays und Geschichtswerke. Erinnert werden muß an zwei besonders erfolgreiche Bücher, die Themen aufgriffen, für die zu DDR-Zeiten zwar ein Lesepublikum vorhanden war, für die jedoch die Quellen fehlten: Freya Kliers "Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern" von 1996 und Helga Hirschs "Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944 bis 1950" aus dem Jahr 1998.
Von beiden Autorinnen waren solche Bücher nicht zu erwarten, jedenfalls nicht vor 1989. Helga Hirsch gehört der Generation der Studentenrevolte an und hat, wie sie im Vorwort erklärt, von Schlesien und vom Flüchtlingselend nie was wissen wollen, obwohl ihr Vater Schlesier ist. Freya Klier war oppositionelle Bürgerrechtlerin und wurde darüber zur Schriftstellerin.
Was die aktuelle Verlagslandschaft angeht, so ist in Mitteldeutschland der Berliner Aufbau-Verlag hervorzuheben. Er brachte schon vor vier Jahren das Buch "Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel" der 1958 geborenen Ruth Kibelka heraus sowie vor kurzem von derselben Autorin "Ostdeutschlands Schicksalsjahre 1944-1948".
Allerdings irritiert beim letzteren der Verlagstext, wonach die zunächst unter russischer Herrschaft in ihrer Heimat verbliebenen Ostdeutschland "1947/48 auf entwürdigende Weise nach Ostdeutschland abtransportiert wurden". Hatten sie vorher im Niemansland gelebt?
Der 1990 gegründete Leipziger Verlag Faber&Faber ist mit seiner inzwischen auf 19 Bände angewachsenen "DDR-Bibliothek" bekannt geworden, in der die "klassischen" Werke dieser Ära nochmals erscheinen, darunter Romane aus Ostdeutschland stammender Autoren wie des Oberschlesiers Werner Heiduczek, des Ostdeutschland Karl-Heinz Jakobs, des Westpreußen Alfred Wellm, der Ostbrandenburgerin Christa Wolf sowie des Schlesiers Christoph Hein.
Im Westen gibt es noch mehrere Verlage, die sich fast nur mit ostdeutschen Themen beschäftigen: der Stuttgarter Jan-Thorbecke-Verlag, der Bergstadt-Verlag in Würzburg oder der Rautenberg-Verlag in Leer. Als führend in diesem Bereich kann die jüngst um den Ost-Berliner "Verlag der Nation" erweiterte Verlagsgruppe Husum gelten.
Daß die Beschäftigung mit der Geschichte und der Kultur der deutschen Siedlungsgebiete im Osten keineswegs aufgehört hat, zeigt auch der neue Roman von Peter Härtling, der unter dem Titel "Große, kleine Schwester" erschienen ist und in der mährischen Hauptstadt Brünn spielt. Man kann den Roman aus verschiedenen Perspektiven lesen, aber, daß es sich bei den beiden Schwestern um Angehörige der deutschen Volksgruppe handelt, wird man nicht überlesen können und dürfen.
Dr. Jörg Bernhard Bilke wurde 1937 in Berlin geboren, wuchs im fränkischen Rodach auf und verbrachte drei Jahre in einem DDR-Zuchthaus in Sachsen. 1977 promovierte er über Anna Seghers und ist seit 1983 Chefredakteur der "Kulturpolitischen Korrespondenz" (KK).
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