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Völlig am Problem vorbei

 
     
 
Ute Erdsiek-Rave, Schleswig-Holsteins Kultusministerin, schlug auf dem außerordentlichen Landesparteitag der SPD "Lernen für die Zukunft" in Norderstedt in diesem Monat ein angeblich neues schulpolitisches Kapitel auf: Die Genossinnen und Genossen der Nord-SPD wollen den "europäischen und globalen Herausforderung
en des 21. Jahrhunderts" begegnen, indem sie "zum ersten Mal seit der Weimarer Republik, seit der Einführung der gemeinsamen Grundschule, Ernst machen wollen mit der langfristigen Überwindung des Schulsystems aus dem preußischen Ständestaat": An die Stelle "einer vordemokratischen und zutiefst ungerechten Sortierung nach sozialer Lage und nach Schichtzugehörigkeit" wolle man die "zutiefst humane Hinwendung auf das einzelne Kind, den einzelnen jungen Menschen mit seinem Wert und seiner Würde" setzen. Der Weg dorthin ist nach ihrer Vorstellung eine längerfristig geplante Strukturreform des gesamten deutschen Schulwesens, nämlich die Schaffung einer zehnjährigen Einheitsschule für alle Schülerinnen und Schüler. Damit gehen die roten Nordlichter noch weiter als die Hamburger GAL und ihre Spitzenkandidatin Christa Goetsch, die unter dem Motto "Neun macht klug" seit Herbst 2003 in der "Neuen Hamburger Schule" allen Schülern neun Jahre lang gemeinsamen Unterricht verordnen wollen.

Als wesentliche Begründung für diesen neuerlichen Rückfall in eine Schulstrukturdebatte dient das mäßige Abschneiden der 15jährigen an deutschen Schulen bei der internationalen Vergleichsstudie der Schulleitungen (Pisa). Die Pisa-Ergebnisse dienen seit ihrer Veröffentlichung vor allem in Deutschland den verschiedensten schulpolitischen Richtungen als Argumentationsgrundlage: Unter Berufung auf Vorbilder aus anderen Ländern, die bei Pisa besser abschneiden (aber zum Teil auch ganz andere Traditionen und Bedingungen haben), fordern die einen beispielsweise eine grundlegende Reform der Unterrichtsmethoden und der Lehrerausbildung, andere propagieren mehr Leistungskontrollen. Rot-Grün nimmt jetzt also den schon längst verlorenen ideologischen Grabenkampf um die Integrierte Gesamtschule (IGS) wieder auf. Dabei ähnelt die Zielvorstellung der SPD-SH auffällig der Struktur des Schulwesens in der DDR mit ihrer einheitlichen "Zehnjährigen Polytechnischen Oberschule" und der anschließenden zweijährigen "Erweiterten Oberschule". Bekanntlich waren sich alle nach der Wende einig, dieses Schulmodell so rasch wie möglich abzuschaffen. Dieses war auch weder durch besondere Leistungsfähigkeit noch durch eine "zutiefst humane Hinwendung auf das einzelne Kind ... mit seinem Wert und seiner Würde" aufgefallen.

Mit ihren Äußerungen über das "Schulsystem aus dem preußischen Ständestaat", das endlich überwunden werden müsse, bedient die schleswig-holsteinische Kultusministerin Erdsiek-Rave nur altlinke Vorurteile und beschwört aus durchsichtigen Motiven den Popanz vom illiberalen, obrigkeitsstaatlichen, militaristischen, rückwärtsgewandten Preußen. Sie wird aber damit der Geschichte und Gegenwart des dreiglied-rigen Schulwesens in keiner Weise gerecht. Abgesehen davon, daß Preußen als einer der ersten Staaten in Deutschland die allgemeine Schulpflicht eingeführt hat, daß Humboldts Konzept des Gymnasiums zum Vorbild für ganz Deutschland und zur Grundlage der Weltgeltung des deutschen Schul- und Bildungswesens wurde, daß die alte preußisch-deutsche Volksschule (im Unterschied zur Hauptschule unserer Tage) eine breite Volksbildung auf hohem Niveau vermittelt hat: Kennt die Kultusministerin ihre heutigen Schulen von innen? Wo findet sie dort eigentlich noch ein Abbild der alten Ständegesellschaft? Weiß sie nicht, worüber sie spricht? Da sitzen an Hamburger Gymnasien seit langem die Kinder anatolischer und iranischer Zuwanderer neben den Kindern von Ärzten, Krankenschwestern, kaufmännischen Angestellten, Facharbeitern und Arbeitslosen. Daran kann es also wirklich nicht liegen. Zudem: gerade der demokratische Staat lebt von der gesamtgesellschaftlichen (auch wirtschaftlichen) Leistung aller und davon, daß soziale Positionen und sozialer Aufstieg nicht durch Geburt, sondern aufgrund von Leistung und Tüchtigkeit geregelt werden. Es geht also um die Frage, wie die optimale Bildung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen entsprechend ihren Möglichkeiten, Wünschen und Fähigkeiten gesichert werden kann. So liegen gerade die strukturellen und ganz unideologischen Vorteile des dreigliedrigen Schulsystems darin, daß die Kinder nach den ersten vier gemeinsamen Lernjahren entsprechend ihrem Leistungsvermögen, ihrer Lernmotivation, ihren Fähigkeiten und Zielen in leistungshomogenen, lange konstanten Lerngruppen auf ein gemeinsames Bildungsziel hin lernen und arbeiten können. Das könnte entspannter und ökonomischer funktionieren, als die so verschiedenartigen jungen Menschen fast um jeden Preis länger als nötig in einem einheitlichen System zu beschulen. Haupt- und Realschullehrer berichten davon, wie die vorher etwas Langsameren und Stilleren ab Klasse 5 aufblühen, ihre eigene Tüchtigkeit erfahren und eine "neue Spitze" bilden, wenn sie die Konkurrenz der Überlegenen, die zum Gymnasium gegangen sind, endlich los sind.

Daß selbst an den Gymnasien heute im Durchschnitt nicht mehr das alte Niveau erreicht wird, hat zum einen gesamtgesellschaftliche Ursachen, zum anderen liegt es daran, daß man mit dem freien Zugang aufgrund des Elternwahlrechts die genannten Vorteile mutwillig preisgegeben hat.

Die Flucht in die Einheitsschule lenkt aber von den eigentlichen Problemen ab: Viel entscheidender als Schulstrukturdiskussionen ist die Frage, warum unsere Gesellschaft Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft sowie Tüchtigkeit inzwischen so wenig achtet und belohnt, warum Schule von den meisten jungen Menschen nur noch als lästiges Übel, allenfalls als soziale Begegnungsstätte bewertet wird, warum Lehrer, Schule und Bildung einen so geringen Rang in der Wertschätzung vieler Menschen bei uns haben. Mit teils verwöhnten, teils verwahrlosten Kindern, die sich ihrer Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft nicht bewußt sind, kann man keine gute Schule machen, gleich nach welchem System. Das beginnt schon in der Familie. Statt ideologischen Träumereien von einer Einheitsschule nachzuhängen, sollten alle Menschen, die es mit unseren Kindern und mit unserer Gesellschaft wirklich gut meinen, daran gehen, den alten standesübergreifenden preußischen Tugenden wieder mehr Geltung zu verschaffen: Fleiß, Zuverlässigkeit, Pflichtgefühl, sachliche Nüchternheit, Bescheidenheit und soziale Verantwortung.

 
     
     
 
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