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Das Europäische Bildungswerk Hessen e. V. hat in Allenstein ein Seminar zum Thema "Masuren im polnisch-deutschen Dialog - Forschungen, Berührungen, Interessen" veranstaltet, an dem 25 Personen teilnahmen. Die sehr engagierten und auskunftsfreudigen Referenten kamen allesamt aus dem südlichen Ostdeutschland und hatten zum Teil deutsche Wurzeln.
Die informativsten und wohl interessantesten Vorträge gab es von den Vertretern der evangelischen Kirche, wobei der Soziologe Dr. Alfred Czesla aus Allenstein ganz erheblich an der Vorbereitung mitgewirkt hatte. Den Seminarteilnehmern wurden die Ergebnisse einer Umfrage in der Diözese Masuren vorgestellt, die es in der Form vorher noch nicht gegeben hatte. 522 evangelische Gläubige wurden befragt, die einen repräsentativen Querschnitt der etwa 5000 Personen in 14 Kirchengemeinden darstellen.
"Ein gesamtes Zahlenwerk liegt zwar vor, ist aber mit wenigen grundlegenden fundamentalen Merkmalen verständlich gemacht", so Czesla. Ein durchschnittlicher evangelischer Haushalt besteht heute aus zwei Personen. Die untersuchte Gemeinschaft zeichnet sich vorwiegend durch geringe Qualifikation aus. Bei den Gläubigen in der Region überwiegen die Frauen mit 64 Prozent. Auch die Altersgruppe der 55jährigen und Älteren ist in der Mehrheit. Ihr Anteil beträgt 57 Prozent. Von denen befindet sich über die Hälfte im Ruhestand. Ein Drittel ist berufstätig, und etwa zwölf Prozent sind arbeitslos. Die materielle Lage wird von mehr als der Hälfte der Befragten als "weder gut noch schlecht" bezeichnet.
Bei der Frage nach der nationalen Identität gibt fast ein Drittel an, polnisch orientiert zu sein, ein Fünftel gar fühlt rein polnisch. Der deutschen Sprache sind auf unterschiedlichem Niveau 95 Prozent mächtig. 90 Prozent haben Kontakte zu Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Kirche ist in dem Zusammenhang interessant, daß fast 70 Prozent der Befragten erklärten, mit dem Standartsatz "Evangelische Christen sind Deutsche" nicht einverstanden zu sein. Die überwältigende Mehrheit sieht keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Konfession und Nationalität; 90 Prozent sagen eindeutig, daß auch ein Pole evangelischer Christ sein könne.
"Die Hälfte der evangelischen Christen bezeichnet sich als Bewohner des Ermlands und Masurens. Ein neuer Trend, der die starke Verbundenheit mit der Heimat verdeutlicht", so Czesla.
Der größte Teil der evangelischen Christen vertritt eine zwanglose Weltanschauung und weist ein hohes Maß an Toleranz gegenüber Mischehen auf. Viele befürchten allerdings, daß auf diese Weise der Schwund in der evangelischen Gemeinschaft beschleunigt werde. Trotzdem blickt die Mehrheit hinsichtlich ihrer Kirche optimistisch in die Zukunft. Der evangelische Glaube und dessen Werte dienten als Richtschnur und machten den Kern der Identität aus.
In den unterschiedlichen Seminarbeiträgen wurde erkennbar, welchen Problemen die Deutschen und die Polen, gerade auf dem kirchlichen Sektor, noch immer gegenüberstehen. Das reicht in alle Lebensbereiche hinein. Pfarrer Krzysztof Mutschmann aus Sorquitten legte in beklemmender Weise offen, wo mit der katholischen Kirche immer wieder Differenzen auftreten.
Von einer erfolgreichen Gemeindearbeit wußte der evangelische Pastor Franciszek Czudek aus Nikolaiken zu berichten. Er hat in einem schwierigen Umfeld eine funktionierende Gemeinde aufgebaut, nachdem einige Vorgänger vor ihm vor dieser schwierigen Aufgabe kapituliert hatten. Ein Museum für Protestantismus in Masuren mit alten Bibeln in Deutsch und Polnisch, Gesangbüchern, Predigten und Schriften ist der Kirche angegliedert. Mehrere Appartements und Zimmer sowie eine Jugendherberge für Urlauber aus allen Teilen der Welt stehen zur Verfügung. Alles in Seenähe gelegen. Ehemalige Nikolaiker aus Hamburg haben mit dafür gesorgt, daß Darlehen flossen und die finanziell schwache Gemeinde zu leben begann. Aus einem harten Kern von 15 evangelischen Christen ist mittlerweile eine Gemeinde mit 300 Gläubigen geworden.
Hier klappt auch die Ökumene. In dem Pflegeheim sind 80 Prozent der Bewohner katholisch. Verhandlungen mit der katholischen Kirche, die über zwei Jahre geführt wurden, brachten Erfolg. Die offene konstruktive Arbeit steht im Vordergrund. Ein Beweis ist das gemeinsame Abendmahl mit den Katholiken. "Wir sind in Sachen gemeinsames Abendmahl weiter als Rom", so Czudek. "Die Zusammenarbeit mit den Kollegen der katholischen Kirche ist hervorragend", beschreibt er das Verhältnis. Es ist Brauch geworden, daß katholische Geistliche zu Czudek nach Nikolaiken kommen, um Informationen zu bekommen und Kaffee zu trinken.
Inzwischen genießt die Arbeit der evangelischen Kirche hohes Ansehen in der Region. In der Kirchengemeinde Alt Ukta, südlich von Nikolaiken, gab es große Probleme. "Schickt mal den Czudek hin, die evangelische Kirche kann das", war das einzige, was den Verantwortlichen einfiel. Aus einer Bauruine wurde inzwischen ein Haus für Alkoholkranke und psychisch Kranke. Für Pflegekräfte entstanden so viele Arbeitsplätze. Und die konfessionell gemischte Belegschaft schätzt das Ethos der evangelischen Kirche sowie die ehrliche Arbeit. Die vorbildlichen diakonischen Einrichtungen wurden auch insoweit gewürdigt, als Czudek der erste Pfarrer ist, der zum Ehrenbürger Nikolaikens ernannt worden ist. Das Vorbild für Czudek ist sein eigener Vater, der ihm einmal sagte: "Du hast so zu arbeiten, daß jeder sieht, daß du evangelisch bist!"
Das Beispiel hat Schule gemacht. Auch andere Würdenträger haben die Chance entdeckt, finanziell und wirtschaftlich sowie ökumenisch zu Erfolg zu kommen. Pfarrer Mutschmann steht dem in nichts nach, denn auf dem Kirchengelände in Sorquitten verfügt auch er über eine gut gepflegte Ferienanlage. Die geistlichen Würdenträger sind in Polen auf eigene Ideen angewiesen, denn sie leben ausschließlich von Spenden und Gaben der Gemeindemitglieder. Gehälter vom Staat gibt es nicht. Das betrifft die katholischen und die evangelischen Pfarrer gleichermaßen. "Wir sind praktisch, aus der Not geboren, nicht nur der Herr Pfarrer, sondern auch Tourismusmanager", so Mutschmann nicht ohne Stolz. Seine Initiative beinhaltet auch die Beschäftigung von fünf arbeitslosen Frauen, die mit Kunststickerei wahre Kunstwerke schaffen, die von Touristen gerne gekauft werden. Sinn und Zweck beschreibt Mutschmann wie folgt: "So kommt halt Zloty zu Zloty und bringt den Menschen ein kleines zusätzliches Einkommen. Die wichtigste Komponente ist aber, daß es im ländlichen Raum etwas zu arbeiten gibt."
Alle Teilnehmer waren von den auf dem Seminar kennengelernten Gegebenheiten, aber auch den Möglichkeiten, durch eigene Initiativen und Ideen zu Erfolg zu kommen, tief beeindruckt, ein Eindruck, den die Seminarteilnehmer mit nach Hause nahmen.
Das Europäische Bildungswerk Hessen lud zum Seminar
"Du hast so zu sein, daß jeder sieht, daß du evangelisch bist!"
Beim Vortrag: Pfarrer Franciszek Czudek (links) mit dem ihm als Übersetzer dienenden Helmut Kowalewski |
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