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Was wollt ihr mit uns machen?

 
     
 
Die verschmierten Grimassen obdachloser Kinder, in Lumpen gekleidet und nach Lösungsmitteln riechend, sind längst zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil des Alltags in Königsberg geworden.

Die Presse hat aus den kleinen Vagabunden wahre Nationalhelden gemacht: ihre Gesichter erscheinen ständig im Fernsehen, oder sie lächeln schüchtern auf den Seiten von Illustrierten. Man bemitleidet sie und gibt der herzlosen Gesellschaft die Schuld für ihr Schicksal. "Im Fernsehen werden keine normalen Kinder mehr gezeigt, nur noch solche", empört sich die Leiterin des Obdachlosenheims, Ludmila Wassiljewna Korenewskaja. "Ein normales Kind ist bescheiden, aber unsere Bewohner sind es gewohnt, vor der Kamera zu posieren; sie sind es gewohnt, daß ihnen solche Aufmerksamkeit zuteil wird!"

Daß dank der Unterstützung des Bürgermeisters der Stadt zwei Obdachlosenheime sowie ein Rehabilitationszentrum eingerichetet wurden, wo man auch leben kann, und daß es eine Verteilungsstelle für Soforthilfe mit dem Namen Sergij Radoneschskij gibt, davon erfährt die Öffentlichkeit kaum etwas. Dabei wollen die kleinen Herumtreiber zweifelsohne weder lernen noch arbeiten. Sie ziehen von einer Anstalt
zur nächsten, laufen weg und verkaufen die ihnen übergebene neue Kleidung. Sie lachen nur über die Erzieher: "Was wollt ihr mit uns machen? Schlagen könnt ihr uns nicht, wegjagen auch nicht, und einkleiden müßt ihr uns!" Diese Kinder kennen ihre Rechte sehr genau, sie wissen, daß man sie ernähren und sie in ein sauberes Bett legen muß, aber das Paradox besteht darin, daß ihnen das Leben auf Märkten, an "warmen Orten" gefällt; es gefällt ihnen, zu stehlen, zu leben, wie sie wollen, und zu bekommen, was sie wollen, ohne von sich aus etwas geben zu müssen. Vielleicht deshalb, weil diese Lebensweise das einzige ist, was sie bisher in ihrem kurzen Leben kennengelernt haben.

Im Obdachlosenheim ist das Leben angenehm: Es gibt fünf Mahlzeiten am Tag, als Zwischenmahlzeit Früchte wie Bananen und Apfelsinen. Häufig kommen Delegationen aus dem Ausland zu Besuch, die jedem etwas schenken. Zum Neujahr hat jedes Kind bis zu sechs Geschenke erhalten: vom Bürgermeister, von verschiedenen Komitees, von Sponsoren. Niemand wird eingesperrt. Wer will, kann zu Hause sitzen, spazieren gehen, es gibt Fernsehen und Video. Kleidung kann man sich aus der "Humanitären Hilfe" herausgraben, fast neue Jeans, Sweat-Shirts, Jacken … Das haben längst nicht alle Kinder, die unter normalen Umständen leben, wenn Mutter und Vater keine Arbeit finden können und die Familie von der Pension der Großmutter lebt, die nicht mal für Brot und Kartoffeln reicht.

"Mit jedem Jahr wird unser Kontingent krimineller und unverschämter," meint Ludmila Wassiljewna. "Sie wissen genau, daß sie bis zum 14. Lebensjahr nicht strafmündig sind!" Die Gesellschaft beachtet die anomalen Erscheinungen der Nach-Perestrojka nicht, besonders die der Obdachlosen. Um solch ein Kind wieder in einen normalen Zustand zurückzuführen, benötigt es viel Nachsicht, Zeit und Geduld. Und das ohne Garantie auf ein Dankeschön bei 200 Rubeln im Monat. Es ist sehr schwierig, die Kinder aufzutauen, ein weggejagtes, beiseite geschobenes wildes Tierchen in einen Menschen zu verwandeln, es einen Reigen tanzen und Lieder singen zu lassen. Über solch ein Kind würde man nie mehr sagen, daß es einmal ein "Schnüffler" war – also abhängig von in Klebstoff enthaltenen berauschenden Lösungsmitteln, die eingeatmet werden.

Im Obdachlosenheim dürfen Kinder nur für die Dauer von bis zu sechs Monaten untergebracht werden, obwohl dies nach Meinung der Leitung viel zu kurz ist für eine erfolgreiche Rehabilitation. Und wenn die Zeit nicht ausreicht, sind alle Bemühungen wie vom Winde verweht. Aber das ist nicht immer so: Dimka beispielsweise, 12 Jahre alt. Früher rauchte er; nach einem ordentlichen Besäufnis wären ihm beinahe die Füße erfroren. Er randalierte und hielt das ganze Heim in Atem. Heute ist er fast ein vorbildlicher Junge: er geht zur Schule, lernt gut, hat mit dem Trinken aufgehört, und die Kinder in der Gruppe hören auf ihn, achten ihn. …

Einige Kinder versorgen ihre trinkenden Eltern mit Essen und kleiden sie mit Sachen aus dem Obdachlosenasyl ein. Die Väter von einigen sitzen im Gefängnis, andere Eltern weigern sich, etwas mit ihren Kindern zu tun zu haben. Maschas Mutter zum Beispiel, die sich irgendwo in der Nähe von Neukuhren aufhält, konnte bis heute nicht gefunden werden. Die Gewohnheiten der Kinder sind völlig unterschiedlich. Ein Junge weigerte sich hartnäckig, im Bett zu schlafen, weil er zu Hause im Korridor unter der Matte schlief. Er war daran gewöhnt, im Flur zu wohnen, vor dem Vater hat er sich versteckt. Im Heim hat er sich schon mit Benzin übergossen und versucht, sich selbst anzuzünden. Auf den Straßen bettelnde Obdachlose versichern unter Tränen, daß die Mutter sie schlage, daß sie im Heim geschlagen werden und daß sie nichts zu essen hätten. Dabei "verdienen" sie auf diese Weise bis zu 300 Rubel am Tag, angeblich für Brot.

Deshalb empfehlen die Heimleiter, bettelnden Kindern niemals Geld zu geben. Wenn sie hungrig sind, sollte man ihnen Brot geben oder besser noch, in einem Obdachlosenasyl oder bei der Polizei anrufen. Meistens laufen die Kinder dann weg.

Auf eine andere Weise verdienen sich Mädchen ab 10 Jahren aufwärts ihr Geld. Sie bieten der Bevölkerung sexuelle Dienste an und beschreiben anschließend den verblüfften Erzieherinnen in allen Details, wie sie sich den Hosenschlitz aufgeknöpft haben.

Die Jungen haben ihr eigenes "Hobby". Über die Hälfte derjenigen, die in ein Obdachlosenheim kommen, ist homosexuell. Das hatte niemand erwartet. Ein Fünfjähriger wurde beinahe von seinem Kameraden vergewaltigt, die Jugendlichen haben ihn verpetzt. Daraufhin entfernten die Erzieherinnen die Schlösser von den Toilettentüren und ließen die Jungen nur noch einzeln zur Toilette gehen. Im Zentrum "Sergij Radoneschskij" erzählt man den Kindern, daß Gott gegen diese Art des Zusammenlebens sei. Ungewiß ist, ob man Kinder, die oft nicht einmal 15 Jahre alt sind, mit Hilfe der Bibel von solchen exotischen Gewohnheiten abbringen kann. Mit den Jungen arbeiten zwar Psychologen, doch die Tatsache, daß Homosexualität zwischen Obdachlosen weit verbreitet ist, ist ein Faktum, von dem nicht bekannt ist, wohin es in Zukunft noch führen wird: denn Gewalt und Zügellosigkeit sind in der entstellten Welt ihrer verstümmelten Kindheit normal. …

Das im Februar eröffnete Soforthilfezentrum hilft den Kindern zwar aus Zuständen körperlicher Vergiftungserscheinungen heraus, doch meist nur für kurze Zeit. Man schärft ihnen Gottesfurcht ein. Doch was sollten diese Kinder noch zu befürchten haben, wenn Mutter und Vater sie nicht lieben? Die Kinder werden weiter geprägt sein von Obdachlosenheimen, Internaten, Rehabilitationszentren. Es gibt noch eine neue Variante, nämlich, sich nicht in eine Berufsausbildung zu begeben, sondern ins Kloster zu gehen, wenn das 18. Lebensjahr erreicht ist.

Der 17jährige Andrej, danach gefragt, ob er sich zu Gott hingezogen fühlt, antwortet mit einem klaren "Nein". Er bleibt vorerst im Heim, wo er Essen bekommt und einen Platz zum Schlafen hat. Er hat Probleme mit der Wirbelsäule, seine Mutter hat ihn hinausgeworfen, sie selbst war an Tuberkulose erkrankt. Andrej wird wahrscheinlich bald ins Kloster gehen, weil er meint, das sei immer noch besser, als mit den "Kleinen" durch die Straßen zu ziehen. Für die Mädchen bleibt meist nur die Straße, obwohl es bereits auch ein Frauenkloster gibt.

Verläßt man ein Obdachlosenheim, trifft man auf der Straße auf den nächsten acht- oder neunjährigen Herumtreiber mit einem Hut in der Hand, der um eine "milde Gabe" bittet.

(Aus: Kaliningradskaja Prawda)

 
     
     
 
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