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Am 11. Oktober dieses Jahres wird der Schriftsteller Martin Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Der Stiftungsrat führte als Begründung für die Preisverleihung u. a. an, daß Walser den Deutschen und der Welt mit seinen Romanen und Novellen ihr Land erkläre. Mit anderen Worten: Walser liefert eine Art "Hermeneutik" der Deutschen und für die Deutschen. Diese "Hermeneutik" unterscheidet sich allerdings signifikant von den sonst üblichen antinational en Verdammungsritualen der bundesdeutschen Selbstzufriedenheitslinken, die nach wie vor die öffentliche Meinung in Deutschland bestimmen.
Bereits lange vor der Wiedervereinigung Deutschlands hat der am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geborene Walser immer wieder zu erkennen gegeben, daß er sich von der Mehrheit der deutschen Intellektuellen, die glaubten, "fortschrittlich" zu sein, weil "sie diese letzte Kriegsfrucht (gemeint ist die deutsche Teilung, d. V.) für vernünftig" hielten, deutlich unterscheidet. Mit dieser Art von "Fortschrittlichkeit" konnte sich Walser nie anfreunden. So berichtet z. B. der mitteldeutsche Schriftsteller Rolf Schneider in einem Beitrag für den "Spiegel" (49/88), daß der Schriftsteller Martin Walser gelegentlich einer Rede in München mitteilte, daß er "sich nicht mit der Teilung abfinden" könne. Seine (Walsers) Konvulsionen, so vermerkt Schneider weiter, die ihn bei der Vorstellung von Thüringen und Magdeburg erreichten, "ereilen genauso mich, wenn ich an den Bodensee und Dithmarschen denke".
Die Rede, auf die Schneider hier anspielte, hielt Walser am 30. Oktober 1988 in den Münchener Kammerspielen in der Reihe "Reden über unser Land". Seine Rede wurde am 3. November 1988 in der Wochenzeitung "Die Zeit" abgedruckt und sorgte in der Folge für heftiges Rascheln im Blätterwald. Walser rüttelte bei dieser Rede am Selbstverständnis der deutschen Nachkriegsintelligenz: "Darüber müssen sich die Geschichtsschreiber einmal wundern", so schreibt Walser beispielsweise, "wie viele bedeutende Leute sich Jahrzehnte nach Erledigung des Faschismus ihren Zorn und ihr gutes Gewissen lebenslänglich durch antifaschistische Regungen belebten". Daß diese Walsersche Einsicht immer noch Gültigkeit hat, brachte der Journalist Christian Semler im eher "linken" "Kursbuch" (116/93) fünf Jahre später zum Ausdruck: "Immer noch saugen die Linken", so schrieb Semler, "den Honig ihres Selbstverständnisses aus der Größe der Verbrechen, die die Deutschen in diesem Jahrhundert verübten. Je ungeheuerlicher, je einzigartiger die Untaten, desto strahlender ihre eigene Existenz als Antipoden." Letzte Beispiele für diese Haltung: die Selbsterregungszyklen, die die hochgespielten Auseinandersetzungen um Goldhagens fragwürdiges Opus "Hitlers willige Vollstrecker" und die "Wehrmachts-Ausstellung" der Herren Reemtsma und Heer begleiteten. Vor diesem Hintergrund bleibt Walsers ungebrochenes Bekenntnis zur deutschen Nation und damit zur deutschen Geschichte bemerkenswert: "Ich weigere mich", so Walser, "an der Liquidierung der Geschichte teilzunehmen. In mir hat ein anderes Deutschland immer noch eine Chance". Und: "Die Nation ist im Menschenmaß das mächtigste geschichtliche Vorkommen, bis jetzt."
Dieses Festhalten an der deutschen Nation hat sich immer wieder auch in seinem literarischen Werk niedergeschlagen. So z. B. in dem 1987 erschienenen Roman "Dorle und Wolf", einer deutsch-deutschen Spionagenovelle, in dem der Held der Erzählung an beiden deutschen Staaten gleichermaßen scheitert. 1991 erscheint der Roman "Die Verteidigung der Kindheit", der in unmittelbaren Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands steht. Im Zentrum dieser Erzählung steht eine Figur, deren Lebensgeschichte durch die deutsche Teilung nachhaltig beschädigt wurde. Der Held der Erzählung, Alfred Dorn, 1929 geboren und nur durch Glück Überlebender der Katastrophe von Dresden am 13./14. Februar 1945, stellt einen jener typischen Walserschen Antihelden dar, die sich mit Minderwertigkeitsgefühlen und Identitätsproblemen herumzuschlagen haben.
Walsers Bekenntnisse zu den Deutschen und ihrer Geschichte sind für einen, der lange im linken Spektrum zu Hause war, alles andere als selbstverständlich. Walser hat sich vom Anbeginn seiner Karriere nicht auf die literarische Arbeit beschränkt, sondern auch und gerade das "gesellschaftskritische Engagement" gesucht, das zum Credo linker Intellektueller in der Bundesrepublik gehört. So startete er als einer der ersten Publizisten 1961 eine Wählerinitiative für die SPD. Er engagierte sich für die Gewerkschaft und demonstrierte gegen den Vietnam-Krieg der USA. Zeitweise galt er als Sympathisant der DKP. Man wird in diesen Aktivitäten den Einfluß der "gesellschaftskritischen" "Gruppe 47" entdecken können, die auf Walsers literarische Arbeit, aber auch auf seine politische Positionierung einen wesentlichen Einfluß ausübte. Im Mittelpunkt seines Prosa-Werkes steht vorrangig die Alltagswelt des deutschen Mittelstandes, so daß Walser mit einem gewissen Recht in der FAZ (24. März 1997) ein poetischer "Chronist des Alltagsbewußtseins und der trivialen Meinungen" genannt wurde, der wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller die Befindlich-keiten der deutschen Volksseele spiegelt und erzählerisch einfängt. Bei-spielhaft für diesen Ansatz ist Walsers berühmte An-selm-Kristlein-Trilogie ("Halbzeit" [1960], "Einhorn" [1966] und "Sturz" [1973]).
Die "Gruppe 47", ein lockerer Zusammenschluß von Autoren, trat vehement gegen angeblich restaurative Tendenzen in der Bundesrepublik auf. Mit zunehmender Schärfe kritisierten die Mitglieder der "Gruppe 47" (z. B. Jens, Grass, Böll, Koeppen) in den fünfziger und sechziger Jahren den innen- und außenpolitischen Kurs der CDU/CSU. In gewisser Weise verkörpert die "Gruppe 47" jene Nachkriegsintelligenz, von der der Schriftsteller und Theaterdramatiker Botho Strauß einmal schrieb, daß sie sich von ihrem Ursprung an "darauf versteift" habe, "daß man sich nur der Schlechtigkeit der eigenen Verhältnisse bewußt sein" könne, was die "Grimmigkeit gegen das Unsere", gegen das "verhaßte Vaterland" erklärt. Für Schriftsteller wie beispielsweise Günter Grass gilt diese Charakterisierung bis auf den heutigen Tag. Obwohl deutlich von der "Gruppe 47" inspiriert, ist bei Walser jener "verklemmte deutsche Selbst-haß" nicht zu finden, der große Teile der deutschen Intelligenz auszeichnet. So schreibt Walser z. B. in "Stichworte zur geistigen Situation der Zeit" (1979): "Man erwartet von mir geradezu, daß ich mein Deutschsein mit einer Fassung trage, wie man ein Leiden erträgt, für das man nichts kann, das man aber auch nicht mehr loswerden kann." Die deutsche Intelligenz habe sich, so schreibt Walser als Erläuterung, auf eine Meinung festgelegt, "in der das deutsche Volk als eine Masse erscheint, die zum Reaktionären, Kleinbürgerlichen, Dumpfen, Aufklärungsfeindlichen, Faschismusverdächtigen neigt". Die Intellektuellen hingegen erweckten den Eindruck, daß sie am Nationalsozialismus nicht beteiligt waren oder eben dessen Opfer waren. "Schuld war wieder dieses deutsche Volk", so Walser, "das den Verbrechen zugeschaut hatte, mitgemacht hatte, gejubelt hatte." Die "zurechnungsfähigen Intellektuellen" hingegen standen außen vor und hatten selbstverständlich mit den "fanatisierten Kleinbürgern" nichts zu tun. Deshalb so Walser in "Über Deutschland reden" nicken gerade auch die "zurechnungsfähigen Intellektuellen" "zu gar allem vor lauter Angst, für Nazis gehalten zu werden".
Noch pointierter äußerte sich Walser über die deutschen Nachkriegs-Intellektuellen im "Stern" vom 6. März 1997 auf die Frage, wie er sich das "Reizklima" in Deutschland erkläre. Wenn sich Botho Strauß, Peter Handke und Walser mit Essays oder Reden in die politische Debatte einmischten, so der "Stern", reagierten deutsche Intellektuelle häufig mit wutschäumender Polemik. Walser führte dazu aus, daß man bei "den besten unserer Intellektuellen jede Art von Intoleranz voraussetzen könne". "Heute treten die scharfen Intoleranten in den Kulissen der Frankfurter Schule auf. "Unsere freiesten Geister" so Walser seien "die reinsten Pfaffen, wenn es darum geht, eine Versündigung gegen den von ihnen verwalteten Zeitgeist zu ahnden". Die Intellektuellen seien "jetzt die Priester der Gesellschaft, und Priester sind scharf darauf, Sünder zu kreieren".
Daß Walser nicht bereit ist, sich deren Attitüden zu unterwerfen, demonstrierte er in seiner Dankesrede für den 1994 an ihn verliehenen Dolf-Sternberger-Preis, in der er die konservativen CDU-Politiker Phi-lipp Jenninger und Steffen Heitmann verteidigte. Als Walser es gar wagte, in Zusammenhang mit den Brandanschlägen von Mölln und Solingen die "Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle" zu erwähnen, die für den "Kostümfaschismus" neonazistischer Jugendlicher verantwortlich sei, bezichtigte man ihn, eine "konservative Wende" vollzogen zu haben und "nationalistische Positionen" zu vertreten. Walser stellte zu diesen Vorwürfen in der FAZ (24. März 1997) unbeeindruckt fest, daß er "sich gar nicht bewegt habe". Die Fehlurteile der deutschen Linksintellektuellen gegenüber Walser hängen mit deren Abwendung von der deutschen Geschichte zusammen, die er in seinem Beitrag zu den "Stichworten zur geistigen Situation" wie folgt beschrieb: "Ich vermute", so Walser damals, "daß unsere nationale und gesellschaftliche Ratlosigkeit eine Folge der Entfernung von unserer Geschichte ist."
Diese Entfernung von der eigenen Geschichte ist eng verbunden mit dem gestörten Verhältnis zur eigenen Nation, verstanden als überzeitliche Gemeinschaft der Toten, Lebenden und Zukünftigen. So stellte der Schriftsteller in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Überleben und Widerstehen" (1979) fest, daß sich "das heutige Individuum von der Nation emanzipiert" habe. "Das Individuum" sei "Gesellschaftsmitglied" und lasse "bewältigen". Was meint Walser hier? In den "Stichworten zur geistigen Situation" führte Walser aus, daß, "wo Miteinander, Solidarität und Nation aufscheinen", das "bundesrepublikanisch-liberale Weltkind Kirche oder Kommunismus oder Faschismus" sieht. Eine Folge dieser Haltung sei die Ichsucht, die Walser mit scharfen Worten geißelt: "Wir erleben seit Jahr und Tag das Eingeschüchterte, Mutlose. Wer noch soziale Regungen zeigt, kriegt eins drauf. Sobald sich einer ichsüchtig austobt, wird er gestreichelt." Genau deswegen artikulierte Walser das Bedürfnis nach der "geschichtlichen Überwindung des Zustands Bundesrepublik".
Dieser Wunsch ist freilich bis auf den heutigen Tag Hoffnung geblieben. Die von Walser herbeigesehnte Wiedervereinigung hat nicht zur "Überwindung des Zustands Bundesrepublik" geführt, sondern zu dessen Fortschreibung unter neuem Vorzeichen.
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