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Zwei Nationalitäten - ein Anliegen

 
     
 
Auf Anregung des Kreistages unserer Kreisgemeinschaft Schloßberg hat in der Heimat eine gemeinsame Sitzung mit der russischen Administration des Rayons Haselberg stattgefunden.

Die Begrüßungsrede und die Themengebiete mit entsprechenden Fragen waren der russischen Verwaltung rund eine Woche vorher mitgeteilt worden, damit eine Übersetzung schon vor der Begegnung möglich war, und in der Tat sollten wir dann vor Ort den Eindruck gewinnen, daß sich die Verwaltung auf die einzelnen Sachgebiete gut vorbereitet hatte.

Mit 26 Reiseteilnehmern, darunter zwölf Kreistagsmitglieder sowie der stellvertretende Landrat Manfred Karthoff und ein leitender Verwaltungsdirektor des Patenkreises Harburg, begaben wir uns auf die Reise nach Ostdeutschland. Der Start erfolgte in Rotenburg an der Wümme, weil wir dort im Jugendgästehaus eine Einstimmung auf die bevorstehende Reise vornehmen und am nächsten Morgen pünktlich abfahren konnten. Mitreisende, die in Winsen an der Luhe oder Umgebung wohnten, stiegen am nächsten Morgen dort zu. Die erste Übernachtung
fand im pommerschen Kolberg statt. Ein Abendspaziergang führte uns noch an den Ostseestrand.

Nächstes Ziel war Königsberg. Ein Besuch der Provinzhauptstadt sollte auf unserer Reise in die Heimat nicht fehlen. Auf halber Strecke bot uns Dieter Schmidt - Unternehmer und Busfahrer von Julia-Reisen - auf dem Parkplatz gegenüber der Marienburg ein wunderbares Picknick an. Nach normaler Grenzabfertigung gelangten wir ins Königsberger Gebiet und nahmen unsere russische Reiseleiterin auf. Das Hotel "Moskwa" - der Berliner Bär an der Fassade weist noch auf den früheren Namen des Hotels hin - lernten wir als einen Hotelbetrieb mit freundlichem Service kennen. Auf einem Abendspaziergang besuchten wir noch das Schillerdenkmal, das den Krieg überstanden hat. Königsberg zeigte sich am Freitag abend als eine recht lebendige Stadt mit vielen jungen Menschen. Bei der Stadtrundfahrt am nächsten Vormittag erlebten wir das Hafengebiet als Liegeplatz für einige überholungsbedürftige Schiffe, aber sonst keinerlei Aktivitäten im Hafen. Die Besichtigung des Königsberger Doms konnte unsere Stimmung wieder etwas aufbessern, weil der Ausbau des Turms gut gelungen ist. Im Erdgeschoß laden eine evangelische und eine russisch-orthodoxe Kapelle zur stillen Andacht ein. In der oberen Etage sind Museumsräume dem Leben und Wirken Immanuel Kants sowie dem historischen Königsberg gewidmet. Im eigentlichen Kirchenschiff ist noch viel Arbeit zu leisten. Besonders beeindruckte die Reiseteilnehmer, als russische Brautpaare am Dom eintrafen, um Blumen am Grabmal von Immanuel Kant niederzulegen. Bedarf es noch eines weiteren Beweises der Bereitschaft zur Völkerverständigung der jungen Generation als dieser Verehrung des großen deutschen Philosophen? Die Reisegruppe erwies dann am Denkmal vor der Universität der Geistesgröße ihre Referenz.

Wir besuchten dann noch das Geburtshaus von Lovis Corinth in Tapiau, auch wenn das Haus innen nicht zu besichtigen ist. Dann setzten wir unsere Reise in Richtung Osten fort, um Gumbinnen, die Stadt unserer früheren Bezirksregierung und dort die Salzburger Kirche zu besuchen. In der Kirche nahmen wir an einer stimmungsvollen Andacht teil und erhielten Informationen über die Kirchenarbeit und die angeschlossene Diakonie. Von der Kirche werden vor allem Rußlanddeutsche, die dort in der Umgebung ansässig sind, betreut. Die Gottesdienste sind grundsätzlich zweisprachig in deutsch und in russisch. Bei Kaffee und Tee konnten dann noch weitere Fragen erörtert werden. Mit einem gemeinsam gesungenen Lied nahmen wir Abschied, um nach Haselberg zu fahren.

Dort wurde für drei Tage und Nächte Quartier bezogen. Die Pension "Winsen" bot allerdings nur Platz für 16 Personen, also mußten zehn privat untergebracht werden. Das war der Pensionsinhaberin Jelene Sasse offensichtlich ohne große Probleme gelungen, denn alle zeigten sich zufrieden. Frühstück und Abendessen wurden in der Pension "Winsen" eingenommen. Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus nach Schloßberg, um dort auf dem deutschen Soldatenfriedhof, auf dem etwa 300 deutsche Soldaten ihre letzte Ruhe gefunden haben, und am sowjetischen Ehrenmal für 3.800 gefallene russische Soldaten Blumengebinde niederzulegen. Der Kreisjugendbetreuer Gerd Schattauer hielt eine kurze Gedenkrede, und wir beteten gemeinsam das "Vater-unser". Nach einem erfrischenden Picknick am Bus und einem "Pillkaller" auf dem früheren Pillkaller Marktplatz hatte jeder Gelegenheit, zu seinem Heimatort zu fahren.

Am eigentlichen Höhepunkt der Reise, der Begegnung mit der Administration des Rayons Haselberg, nahmen außer sämtlichen Mitreisenden der Vorsitzende des Rayons, Piskarjow, dessen Stellvertreterin Ludmilla Bespalowa, der Geschäftsführer der Deutsch-Russischen Gesellschaft, Afanassjew, die Schulleiterin Tamara Grigorenko und die Lehrerin Ludmilla Chrenova von der Schule in Schillfelde sowie Jelena und Hans-Jürgen Sasse von der Pension "Winsen" teil.

Nachdem zwei Kinder aus dem Waisenhaus in Haselburg und ihre Begleiterin uns eine Ansicht der Kirche von Haselberg in Brandmalerei überreicht hatten, begrüßte der Rayonvorsitzende Piskarjow die Anwesenden und wünschte uns eine gute Atmosphäre und produktive Arbeit. Der Geschäftsführer der Deutsch-Russischen Gesellschaft, Afanassjew, dankte für die vielfältige Hilfe und die gute Zusammenarbeit und verlieh seinem Wunsche Ausdruck, daß dieses nicht der letzte Besuch in der Heimat gewesen sei. Anschließend begrüßte ich in meiner Eigenschaft als Kreisvertreter Schloßbergs die Anwesenden und ließ die bisherige Zusammenarbeit zwischen Kreisgemeinschaft und Rayonverwaltung in ein paar Worten Revue passieren. Ich überreichte dann eine Einladung des Landkreises Harburg für die russischen Kinder, die übernächsten Monat an einer Kinderfreizeit unserer Kreisgemeinschaft teilnehmen werden. Als Gastgeschenk wurden fünf Bände der Chronik des Kreises Schloßberg übergeben. Harburgs stellvertretender Landrat Karthoff brachte in seiner Begrüßungsrede seine Hoffnung auf gute Kontakte und eine vertiefte Freundschaft zur russischen Verwaltung unseres Heimatkreises zum Ausdruck. Er überreichte das Wappen des Landkreises Harburg, einen Bildband und eine Informationsmappe als Gastgeschenk.

In der Fragestunde auf die landwirtschaftliche Nutzung des Gebietes angesprochen, antwortete Piskarjow, daß Weizen, Roggen, Gerste und Raps angebaut würden. Außerdem werde Rinder- und Schweinezucht betrieben. Nach Angaben des Rayonvorsitzenden reichen die Erträge für die Bevölkerung aus. Das Problem der Versorgung könne selbständig gelöst werden.

In dem russischen Prospekt, der mir bereits vor der Reise in deutscher Übersetzung vorgelegen hatte, wird auch auf Bodenschätze wie Erd-ölvorkommen und hochwertige Tone hingewiesen, und so war in der Fragestunde auch dieses Thema. Vor zehn Jahren, so wurden wir aufgeklärt, sei Erdölförderung in Richtung Ragnit und im Gebiet Kussen-Schloßberg betrieben worden. Inzwischen sei die Förderung aber eingestellt worden. Bis 1944 hätten vier Ziegeleien im Kreisgebiet, nämlich in Haselberg, Kailen, Schloßberg und Spullen, existiert. Alle seien durch die Kampfhandlungen zerstört oder demontiert worden. Eine Ziegelei in Trappen mit einer Jahresproduktion von zehn Millionen Ziegelsteinen habe vor vier Jahren die Produktion eingestellt. Als Begründung wurde angegeben, daß die Qualität gering gewesen sei, wie auch die Nachfrage. Es würden alte deutsche Ziegel ausgegraben und nach Königsberg verkauft, weil die Qualität gut sei.

Seit 1989 gäbe es für die Häuser in Haselberg Erdgas. 22 Prozent der Haushalte seien noch nicht versorgt. Pumpen und Kompressoren würden gebaut, um den Druck zu verstärken und mehr Erdgas zur Verfügung zu haben.

Die Kläranlage für Haselberg müsse renoviert werden. Dafür würden Geldmittel gebraucht. Es sei eine "Euroregion Szeszuppe" gegründet worden, der sieben Kreise aus der Republik Litauen und zwei aus der Republik Polen angehörten - auch Schweden sei daran beteiligt. Der Landkreis Harburg sei bei dieser Vereinigung auch herzlich willkommen, führte Piskarow aus.

Die Bevölkerung bestehe zu 70 Prozent aus Russen; es folgten dann Weißrussen, Ukrainer, Tataren, Armenier und Kirgisen. 150 Bewohner seien Wolgadeutsche. Wir erkundigten uns nach der Perspektive für junge Menschen hinsichtlich der Berufsausbildung und erhielten die Auskunft, daß es in Haselberg keine Fachhochschule gäbe, auch keine vergleichbare Lehranstalt. Zur Weiterbildung müßten die jungen Leute nach Insterburg, Königsberg oder Tilsit gehen. Es fehlten Sport- und Kultureinrichtungen. Die jungen Menschen seien gezwungen, ihren Wohnsitz zu ändern.

Früher habe es insgesamt 13 Kindergärten gegeben, überwiegend in Sowchosezentren, heute gebe es nur noch fünf derartige Einrichtungen für den Nachwuchs. Wegen des Geburtenrückganges würden nicht mehr so viele Plätze gebraucht.

Auf die Altersversorgung angesprochen, sagte der Rayonvorsitzende, daß die Renten recht niedrig seien. Im Durchschnitt betrügen sie monatlich 600 Rubel, was gut 17 Euro entspricht. 2.000 Rubel oder 60 Euro gälten als hohe Rente. Zur Statistik der Arbeitslosigkeit erfuhren wir, daß 50 Prozent der Bewohner keine Arbeit hätten, aber nur 600 Arbeitslose gemeldet seien. Der Rest arbeite auf "eigene Weise", indem er beispielsweise Beeren sammle, alte deutsche Ziegel ausgrabe oder Schmuggel betreibe. Die Unterstützung für Arbeitslose, die registriert seien, betrage 600 Rubel.

Dann wurde über die Situation des Krankenhauses gesprochen. Es sei vor 30 Jahren gebaut worden und habe 155 Betten. Zur Zeit würden Infektionsabteilung und Küche renoviert. 18 Prozent des Kreishaushaltes würden für das Krankenhaus verwendet. Auf der Wunschliste des Krankenhauses für die Kreisgemeinschaft stand an erster Stelle ein Operationstisch. Ich kündigte an, daß sich die Kreisgemeinschaft mit 2.500 Euro beteiligen werde, die restlichen 2.000 Euro sollten aus dem Haushalt der Kreisverwaltung gezahlt werden. Piskarjow will die Angelegenheit prüfen. Des weiteren teilten wir dem Rayonvorsitzenden mit, daß unsere Kreisgemeinschaft an die Apotheke 26.000 Rubel (umgerechnet rund 740 Euro) gezahlt hat, um die Schulden des Krankenhauses etwas abzubauen.

Alle Sitzungsteilnehmer nahmen dann ein Essen im Restaurant, das auch als Sitzungsraum diente, ein. Später wurde das Krankenhaus besichtigt. Die Chefärztin dankte herzlich für die immer wieder durch die Kreisgemeinschaft geleistete Hilfe. Wir Kreistagsmitglieder konnten uns davon überzeugen, daß noch viel Hilfe nötig ist, um annähernd einen mitteleuropäischen Standard zu erreichen.

Wir besichtigten dann noch die Kirche, die heute als russisch-orthodoxes Gotteshaus genutzt wird. Auch der Pope stand für die Beantwortung von Fragen zur Verfügung. Es ist der einzige erhaltene Sakralbau im gesamten Kreisgebiet. Danach nahmen wir an einer Folkloreveranstaltung teil, bei der wir erstmalig Chöre aus drei Generationen erleben konnten. Eine weibliche Seniorengruppe stellte unter Beweis, daß man auch im fortgeschrittenen Alter eine gute Gemeinschaftsleistung vollbringen kann. Andere Chormitglieder be-wiesen mit ihren Solostimmen ihre musikalischen Fähigkeiten. Kinder zeigten schließlich mit ihrem Gesangsvortrag, daß man sich um den Nachwuchs keine Sorgen machen muß.

 

Die Worte der Begrüßung Arno Littys

Mit unserer gemeinsamen Sitzung leiten wir eine neue und auch besondere Ära der Beziehungen zwischen der Rayonverwaltung und der Kreisgemeinschaft Schloßberg ein. 60 Jahre nach unserer Flucht aus der Heimat sind in den letzten zwölf Jahren zwischen Ihrer Verwaltung und der Kreisgemeinschaft Verbindungen entstanden, die oft einen freundschaftlichen Charakter haben. Bei deutsch-rusischen Kinderfreizeiten und Jugendbegegnungen in Deutschland, aber auch in Krasnoznamensk [Haselberg] haben sich die Menschen kenennenlernen können. Deutsch-russische Veteranentreffen leiteten seit Anfang der 90er Jahre eine Versöhnung zwischen den Kriegsteilnehmern ein. Durch Benefizkonzerte der russischen Musiklehrerinnen aus Krasnoznamensk an verschiedenen Orten in Deutschland wurde uns ein Stück russischer Kultur nähergebracht. Die Kreisgemeinschaft hat vor 13 Jahren mit Hilfstransporten begonnen, um die Bevölkerung, die jetzt im ehemaligen Schloßberg lebt, zu unterstützen. Mit dieser Hilfe ist der Name Schattauer eng verbunden. Fast alle Hilfstransporte sind von Gerd Schattauer geleitet worden. Auch spontan ist Hilfe geleistet worden, zum Beispiel als dem Krankenhaus in Krasnoznamensk bei einem frühen Wintereinbruch eine Heizöllieferung durch die Kreisgemeinschaft und den Patenkreis Harburg bezahlt wurde. Eine der letzten Hilfsleistungen war der Kauf von medizinischen Geräten für das Krankenhaus und die Bezahlung von Medikamenten in der hiesigen Apotheke. Dieser Strauß hat mit seiner Vielfalt an Beziehungen dazu geführt, daß wir heute hier zusammenkommen und einen Gedankenaustausch vornehmen können.

 

Austausch von Präsenten vor dem Sitzungsbeginn: Der Autor, Schloßbergs Kreisvertreter Litty (3. v. l., im Hintergrund) mit (v. l. n. r.) dem Vorsitzenden des Rayons Haselberg, Piskarjow, einer Dolmetscherin und dem stellvertretenden Landrat des Kreises Harburg, Karthoff Foto: Jegminat

 
     
     
 
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