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Professor Dr. Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) Bonn, setzt sich seit Jahren dafür ein, daß die Organisation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft neu strukturiert wird. Mit der Errichtung von Bürgerkonventen hat er jetzt erneut das öffentliche Interesse auf sich gezogen. Sein Ziel: die schonungslose Aufklärung der Bevölkerung über die derzeitige wahre Situation, um gleichzeitig die politisch Verantwortlichen durch neues Bürger-Engagement zu den notwendigen Handlungen zu ermutigen, auch wenn sie unpopulär sind. Nur dann, so Miegel, ist die Funktionsfähigkeit einer modernen Gesellschaft zu retten.
Worin sehen Sie die Ursachen für die von Ihnen beklagte "Verkrustung der Gesellschaft"?
Miegel: Die wohl wichtigste Ursache ist, daß der großen Bevölkerungsmehrheit noch nichts auf den Nägeln brennt. Noch scheint ja alles ganz gut zu laufen. 90 Prozent der Erwerbsbevölkerung haben einen Arbeitsplatz, die Renten werden pünktlich bezahlt usw. Soll heißen: Viele sehen keinen Grund, ihre Sicht- und Verhaltensweisen zu ändern, und hoffen, im großen und ganzen weitermachen zu können wie bisher. Daß hierfür die Voraussetzungen entfallen sind, sehen sie nicht. Hinzu kommt, daß die Parlamente auf Bundes- und Landesebene, die ja an sich der Hort für gesellschaftliche Veränderungen sein sollten, zu Versammlungen von Interessenvertretern verkümmert sind. Ich denke dabei nicht nur an die starke Stellung der Gewerkschaften. Auch andere Gruppen verfügen in den Parlamenten über kraftvolle Hebel. Alle verteidigen ihre Besitzstände. Das erschwert den notwendigen Reformprozeß.
Welche Rolle räumen Sie der Arbeitswelt in dieser Entwicklung ein?
Miegel: Erwerbstätige spüren die Veränderungen noch am ehesten. Aber sie nehmen sie nicht wirklich an. Ein Beispiel. Jahrzehntelang hieß es: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Mittlerweile wird der Weltmarkt mit Produkten überschwemmt, die genauso gut und mitunter sogar noch besser sind als die in Deutschland produzierten, aber nur einen Bruchteil kosten. Die Arbeit ist also gleich. Nur der Lohn ist unterschiedlich. Doch die deutschen Arbeitnehmer denken gar nicht daran, hieraus Konsequenzen zu ziehen. Sie erwarten, daß sie für ihre an sich gleiche Arbeit ein weit höheres Entgelt erhalten als ihre Kollegen in anderen Ländern. Daß sie entweder deutlich besser sein müssen als diese, um dieses höhere Entgelt zu rechtfertigen, oder ihre Einkommenserwartungen zurückschrauben müssen, wollen sie nicht wahrhaben. Aber derart elementare Wahrheiten lassen sich nicht auf Dauer unterdrücken. Der Arbeitsmarkt wird durch die globalen Veränderungen tief umgepflügt werden.
Machen Sie dafür die Gewerkschaften verantwortlich?
Miegel: Sie sind für die Verdrängung der Wirklichkeit nicht allein verantwortlich. Aber sie haben nach Kräften dazu beigetragen - und sie tun das weithin auch heute noch -, Illusionen zu nähren. So war es abwegig, zu Beginn dieses Jahres Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Bereich für höhere Ein- kommen auf die Straße zu schicken, wo doch jeder wußte, wie hoch verschuldet Bund, Länder und Gemeinden sind. Einkommenserhöhungen konnten nur zu Entlassungen führen, und die erfolgten dann auch prompt. Eine Arbeitnehmerorganisation, die sich so widersinnig verhält, ist offenbar nicht mehr rational gesteuert. Sie schlägt nur noch um sich. Das sind keine guten Voraussetzungen für die Überwindung der derzeitigen Anpassungsprobleme, auch wenn es in jüngster Zeit in dieser Hinsicht einige Hoffnungsschimmer gibt.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um die davon Betroffenen die Notwendigkeit von Veränderungen erkennen zu lassen?
Miegel: Menschen lernen vor allem aus Erfahrungen. Von den Älteren abgesehen, hat die Bevölkerung dieses Landes bislang nur positive Erfahrungen gesammelt. Kriege, Hungersnöte oder andere existentielle Katastrophen sind ihr erspart geblieben. Letztendlich ist immer alles gut gegangen. Das hat die meisten geprägt. Sie stiegen in jungen Jahren in einen Fahrstuhl, und dann ging es nach oben. Erst in neuerer Zeit stellen sie fest, daß sich dieser Fahrstuhl kaum noch bewegt. So stagnieren die realen Erwerbseinkommen westdeutscher Arbeitnehmer schon seit geraumer Zeit, und entsprechend treten auch die Rentner auf der Stelle. Wer 45 Jahre lang ein Durchschnittseinkommen erzielt und daraus seine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet hat, kann sich für seine Rente heute nicht mehr kaufen als ein Rentner im Jahre 1978. Dabei ist dieser Stillstand erst der Anfang. Von nun an geht es mit allen sozialen Sicherungssystemen bergab. Nullrunden sind nämlich nichts anders als Kürzungsrunden. Die Kaufkraft der Rentner sinkt. Die von der Rürup-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen werden diese Entwicklung weiter beschleunigen. In nicht sehr ferner Zukunft werden Renten und vermutlich auch Pensionen auf die Größe heutiger Sozialhilfesätze zusammengeschrumpft sein. Selbst Altersarmut könnte wieder um sich greifen. Dann wird sich zeigen, daß heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung ausreichend für die Fährnisse des Lebens, insbesondere des Alters, vorsorgt. Die andere Hälfte läuft Gefahr, in eine Armutsfalle zu tappen.
Das alles muß den Menschen heute gesagt werden, und bei einigen fällt es ja auch auf fruchtbaren Boden. Noch sind die Reaktionen auf die anstehenden Veränderungen jedoch zu schwach. Aber wie ich schon sagte: Menschen lernen vor allem aus Erfahrungen. Allerdings hat diese Form des Lernens eine empfindliche Schwäche. Das Kind muß immer erst in den Brunnen fallen.
Wo sind in diesem Zusammenhang Einwirkungen des Managements erkennbar?
Miegel: Unternehmer und Manager stehen bei dem Sammeln solcher Erfahrungen an vorderster Front. Sie sind ganz unmittelbar den Veränderungen der Märkte ausgesetzt. Wenn sie nicht oder zu langsam auf diese Veränderungen eingehen, gefährden sie ihre Unternehmen. Die Auslese ist rigoros. 42.000 Firmenpleiten in noch nicht einmal zwölf Monaten sprechen eine deutliche Sprache. Besonders schwierig wird es, wenn das Markt- geschehen auf die Arbeitsplätze durchschlägt. Leider ist das immer häufiger der Fall. Wenn dann Management und Belegschaften nicht konstruktiv zusammenarbeiten, kommt es zu Konflikten. Immer häufiger sind jedoch die Belegschaften bereit, um ihrer Arbeitsplätze willen auf Einkommen zu verzichten. Ich habe sogar schon erlebt, daß Gewerkschaftsvertreter in diesem Sinne gewirkt haben, wenn die Umstände dies erforderten.
Wie beurteilen Sie dann die Möglichkeiten, eine Gesellschaft zu organisieren, in der der einzelne Bürger mehr Verantwortung trägt?
Miegel: Im ersten Schritt muß den Bürgern klar gemacht werden, daß der Staat seine zahlreichen Sozialversprechen - wenn überhaupt - nur noch teilweise erfüllen kann. Die Bürger müssen wissen, was sie realistischerweise noch vom Staat zu erwarten haben. Hätte beispielsweise Walter Riester bei seiner Rentenreform den Bürgern nicht erzählt, daß die sogenannte Eckrente bis 2030 von 70 auf 67 Prozent des letzten Nettoentgelts fallen werde, sondern daß Rentner im Durchschnitt nur noch die Hälfte ihrer Erwerbseinkommen zu erwarten haben - und das ist die Wirklichkeit -, dann wäre die Bereitschaft, verstärkt privat vorzusorgen, mit Sicherheit größer gewesen. So haben nur recht wenige Menschen die "Riester-Rente" abgeschlossen. Ein Höchstmaß an Ehrlichkeit ist Grundvoraussetzung für die Übernahme von mehr Eigenverantwortung.
Darüber hinaus muß die Bevölkerung begreifen, daß sie heute ungleich mehr schultern kann als vor 30 oder 40 Jahren. Die Kaufkraft der verfügbaren Einkommen privater Haushalte ist innerhalb von zwei Generationen im Durchschnitt um 250 Prozent gestiegen. Sozialhilfeempfänger können sich gegenwärtig ebensoviel leisten wie durchschnittliche Arbeitnehmerhaushalte Anfang der sechziger Jahre. Objektiv betrachtet gibt es also heute niemanden mehr, der nicht zumindest ein wenig Vorsorge betreiben könnte.
Wenn viele dennoch so gut wie nichts sparen, liegt das an dem im historischen Vergleich hohen Konsumniveau. Was Menschen heute häufig für völlig normal und unverzichtbar halten, war für viele noch vor zwei Generationen ein schöner Traum. Dieses Konsumniveau ist der Hauptgrund, warum seit 1970 zugleich mit der Geburtenrate auch die Sparquote sank. Viele sind ganz auf den Gegenwartskonsum fixiert. Was künftig werden wird, interessiert sie nicht. Für die Zukunft soll der Staat oder wer auch immer sorgen. Diese geradezu exzessive Gegenwartsfixierung muß zugunsten von größerer Zukunftsorientierung überwunden werden. Das ist der Kern von mehr Eigenverantwortung.
Wo wollen Sie denn die Gegenkräfte hernehmen, die so etwas bewirken, die Kernkräfte für einen Strukturwandel bilden können? Oder sehen Sie den Strukturwandel weniger als kontinuierlichen denn als revolutionären Vorgang?
Miegel: Strukturen wandeln sich sowohl evolutionär als auch revolutionär. Revolutionärer Wandel steht immer dann an, wenn der evolutionäre zu langsam vonstatten geht. In dieser Gefahr befinden wir uns gegenwärtig. Wäre alles das, was heute auf der politischen Tagesordnung steht, in den achtziger Jahren debattiert und entschieden worden, könnten wir der Zukunft gelassen entgegen sehen. Mittlerweile ist der Zeitraum für gleitende, evolutionäre Veränderungen kurz, vielleicht sogar zu kurz geworden. Schon im nächsten Jahrzehnt könnten sich die Ereignisse überschlagen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn bei solchen revolutionären Veränderungen nicht regelmäßig eine Menge Porzellan zerschlagen würde, was zu erhalten gelohnt hätte. Der traurige Befund ist: Diese Gesellschaft hat zuviel Zeit vertrödelt.
Warum engagieren Sie sich dann in der Bürgerbewegung?
Miegel: Weil ich dazu beitragen möchte, daß gerettet wird, was zu retten ist. Dazu bedarf es einer umfassenden Aufklärung der Bürger über die zu bewältigenden Herausforderungen. Viele wissen ja noch immer nicht, wohin die Reise geht. Sie glauben, mit dem Bevölkerungsaufbau sei alles in Ordnung oder sie hätten im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung für ihr Alter vorgesorgt. Daß dem nicht so ist, wagt die Politik nicht ungeschminkt auszusprechen. Weil im BürgerKonvent niemand ein politisches Amt hat und auch keines anstrebt, kann er diese oft undankbare Aufgabe übernehmen. Auf diese Weise soll mitgeholfen werden, einer zukunftsfähigen Politik den Weg zu bereiten. Der Dreh- und Angelpunkt ist hierbei, daß Denk-, Sicht- und Verhaltensweisen der Bürger auf die veränderten Rahmenbedingungen ausgerichtet werden. Wenn das erreicht ist, werden die Politiker die ersten sein, die den veränderten Vorstellungen der Bürger Rechnung tragen. Vorrangiges Ziel ist also nicht, Druck auf Politiker auszuüben, wie dies so oft gefordert wird, sondern bei uns Bürgern selbst anzufangen. Das geschieht im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder wo auch immer. Das alles geschieht ohne Rücksicht auf parteipolitische Bindungen. Sie spielen für den BürgerKonvent überhaupt keine Rolle.
Wie beurteilen Sie den derzeitigen Status der Bürgerbewegung? Sind Sie damit zufrieden?
Miegel: Zufrieden kann und sollte man bei einer solchen Sache nie sein. Das Schwierigste ist, den Menschen begreiflich zu machen, daß der BürgerKonvent kein Dienstleistungsautomat ist, bei dem man oben einen Euro einwirft und unten eine politische Aktion herausbekommt. Der BürgerKonvent ist vielmehr eine Plattform, auf der die Bürger selbst agieren müssen. Ein solches Engagement kostet Zeit, Kraft und Geld. Ohne das geht es nicht. Ich bin erfreut über alle, die zu diesem Einsatz bereit sind, und enttäuscht über jene, die immer nur gute Ratschläge parat haben, ohne selbst einen Finger zu krümmen. Eine lebendige Demokratie ist ohne aktives Mittun der Bürger nicht möglich. Zur Zeit ist der BürgerKonvent dabei, örtliche Konvente zu gründen, oder richtiger: Selbstgründungen anzuregen. Ein örtlicher Konvent entsteht, wenn zwölf erwachsene Personen dies erklären und ihre Erklärung vom BundesKonvent bestätigt wird. Ich hoffe, daß sich in den nächsten Monaten zahlreiche örtliche Konvente bilden werden, damit bald mit der eigentlichen Sacharbeit begonnen werden kann.
Keine Angst vor der Wahrheit: Professor Dr. Meinhard Miegel, Mitbegründer des vor wenigen Monaten ins Leben gerufenen BürgerKonvents, fordert die Deutschen zum aktiven Mittun auf. |
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