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Hätten die Hamburger bereits im Juli über ein neu-es Landesparlament entschieden, wäre es womöglich schon passiert das Undenkbare: Laut Umfrage kamen CDU, FDP und die Partei des Richters Schill auf zusammen 47 Prozent, die regierende Rot-Grün-Koalition aber nur auf 46. Bleibt es dabei, bedeutete dies das Ende von 44 Jahren SPD-Herrschaft an Elbe und Alster. Alarmstimmung im Rathaus.
Allein die erst im vergangenen Sommer gegründete "Partei Rechtsstaatlicher Offensive " (PRO) von "Richter Gnadenlos" Ronald Schill erklomm satte zehn Prozent (CDU 29, FDP acht). Und Schill erhofft sich zum Wahltermin am 23. September sogar noch mehr. Was für seinen Optimismus spricht: Viele Hanseaten könnten Angst haben, in einer Umfrage freimütig zu erklären, sie wollten einer als rechts eingestuften Gruppe in den Sattel helfen. Das gilt als "politisch unkorrekt". In der Anonymität der Wahlkabine hingegen kann man sich sicher fühlen und frei entscheiden.
Ob der an der Elbe bereits so genannte "Bürgerblock" aus CDU, FDP und Schill-Partei nach einer Niederlage von Rot-Grün auch zustande kommt, bleibt ungewiß. Die Liberalen drucksen herum. FDP-Chef Rudolf Lange, früher Marinekapitän, will sich partout auf keinen Koalitionskurs festlegen.
CDU-Fraktionschef Ole von Beust ist da schon klarer: Schon zu Jahresbeginn hatte er eine Zusammenarbeit mit Schill "nicht ausgeschlossen". Jetzt ging er noch weiter. Auch vorstellbar sei es, daß Richter Schill in einer CDU-geführten Regierung Justiz- oder Innensenator wird. Und Beust steht keineswegs allein in seiner Partei. Wie eine Blitzumfrage des "Hamburger Abendblatts" ergab, steht beinahe die gesamte Unionsfraktion in dieser Frage hinter ihrem Chef.
Ein wesentlicher Knackpunkt möglicher Koalitionsverhandlungen wäre damit schon mal weggeräumt. Das Innenressort will Schill nämlich unter allen Umständen für sich sonst verzichtet er lieber auf eine Regierungsbeteiligung , und zwar mit einem Justizsenator an seiner Seite, der "mit mir an einem Strang zieht". Dieser müsse nicht unbedingt auch PRO-Mann sein. Es fiel bereits vor Monaten der Name des Ex-Generalbundesanwalts und renommierten Berliner Nationalliberalen Alexander von Stahl. FDP-Mitglied von Stahl hielt sich im Gespräch mit der in der Hauptstadt erscheinenden Wochenzeitung "Junge Freiheit" indes noch demonstrativ bedeckt ließ gleichwohl durchblicken, daß er dem Schill-Projekt eine gewisse Sympathie entgegenbringt.
Daß es Ronald Schill nicht unter dem Innensenator macht, ergibt sich logisch aus seinem programmatischen Kernthema Innere Sicherheit. Hamburg sei die Hauptstadt des Verbrechens, kritisiert der 42jährige Jurist vor durchweg prall gefüllten Sälen, über 1000 Zuhörer wurden schon gesehen. Als Amtsrichter hatte er sich einen Namen gemacht als aktiver Gegner einer, wie er findet, zu laschen Justizpraxis.
SPD und Grüne schäumen ob der offenen Annäherung der Union an den "Rechtspopulisten" und spulen die für solche Fälle dem Gesangbuch des Antifaschisten zu entnehmenden Floskeln ab. Man fürchtet "Schaden für die weltoffene Stadt Hamburg".
Eines der Merkmale jener "liberalen Offenheit" des Stadtstaates ist die überaus freizügige Drogenpolitik. Deren offensichtliche Ergebnisse kann jeder Tourist, der mit der Bahn anreist, von der Minute seiner Ankunft in Hamburg an in Augenschein nehmen. Wer etwa zum Redaktionshaus dieser Zeitung per U-Bahn weiterfahren möchte, muß sich zunächst durch ein dichtes Gewühl gespenstisch anzuschauender Drogenabhängiger winden, bevor er die Treppen zur Untergrundbahn erreicht. Laut oder infolge angegriffener Stimme nicht so laut werden hier allerlei Betäubungsmittel, Spritzen ("Pumpen! Wer will Pumpen?"; "Koks! Ko-oks!!"; "Steine!" ...) und natürlich die nur "unter strengster Kontrolle ausgegebenen" Ersatzdrogen wie Polamidon feilgeboten so öffentlich wie auf dem legendären Hamburger Fischmarkt, wo sonntags früh andere Waren des täglichen hanseatischen Bedarfs mit lautem Gejohle unters Volk gebracht werden.
Das Drogenmarkttreiben hinter sich, kann der Ortsunkundige dann im unterirdischen Gängela-byrinth leicht die Orientierung verlieren. Doch keine Bange: Wer sich verläuft, kommt auf der anderen Seite wieder hoch wo ihn die professionellen Dealer begrüßen: "Alles klar? Brauchst du was?". Dem Anschein nach überwiegend politisch Verfolgte afrikanischer Abkunft. Kurz dahinter eröffnet sich der Steindamm, an dessen Bürgersteig drogenverfallene Prostituierte ihre Dienste darbieten. Aber wir wollten ja U-Bahn fahren. Die einfache Karte kostet ab 2,70 Mark, plus ein paar Groschen für den Bettler, der nebenan Stellung bezogen hat, während das Wechselgeld aus dem Automaten klimpert. Sein Kollege wartet schon am Zug, um während der Fahrt von Bank zu Bank seinerseits einen Obolus zu erbitten.
An welcher Stelle man den berüchtigten Hauptbahnhof betritt oder verläßt, bleibt gleich. Bettler, Drogendealer oder vor sich hindämmernde Betrunkene beherrschen das Bild. Hamburg-Reisende trauen angesichts der Szenerie, die in ihrer abstoßenden Massierung deutschlandweit als einmalig gilt, ihren Augen nicht sowenig, wie eine wachsende Zahl von Elbhanseaten dem SPD/Grünen-Senat noch zutraut, die sich dahinter verbergende Katastrophe in den Griff zu bekommen. Verfall, Elend und Tod am Hauptbahnhof sind nur die bizarre Fassade. Hinter ihr türmt sich eine Verbrechensstatistik, die immer mehr Menschen schlicht Angst einjagt; ein Ausmaß von öffentlicher Verwahrlosung, das als schändlich empfunden wird (Schill schätzt die offene Drogenszene auf über 10 000 Schwerstabhängige; die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Straßenraubes zu werden, sei in Hamburg elfmal höher als in München).
Ronald Schill hat kühn versprochen, als Innensenator die Verbrechensrate binnen 100 Tagen zu halbieren. Der Spott der von Abwahl bedrohten Koalitionäre wirkt gequält. Hastig schickte SPD-Bürgermeister Ortwin Runde erst vor ein paar Wochen seinen langjährigen Innenressortchef Wrocklage in die Wüste. Nachfolger Scholz schnibbelte binnen weniger Tage einige Punkte aus dem Schill-Programm heraus und verkauft sie nun großspurig als Offensive für mehr innere Sicherheit.
Doch das "neue" Drogenkonzept ist in den Augen von Frank Schöndube, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), auch bloß Schaumschlägerei. Wirklich Neues enthalte es nicht. Seit langem geforderte Maßnahmen werden laut BDK von der Justizsenatorin Peschel-Gutzeit (SPD) ohnehin in ein Korsett von Einschränkungen gezwängt, das sie praktisch unwirksam werden läßt.
Der Blick in eine Hamburger Tageszeitung macht sichtbar, wovon der leidgeprüfte Kriminaler spricht. "Mit starker Besorgnis" und "deutlicher Kritik", heißt es dort, registriere die SPD-Jugend die "repressive Politik gegen Bettler, Drogenabhängige und Obdachlose". Die linke "Regenbogengruppe" im Parlament (eine Abspaltung der Grünen) sieht im Einsatz von Brechmitteln gegen Drogendealer einen "durch nichts zu rechtfertigenden Eingriff in die Menschenwürde". Drogendealer transportieren ihr Gift erfahrungsgemäß in kleinen Kügelchen im Mund, sicher von Plastikfolie umhüllt. Werden sie durchsucht, schlucken sie die kleinen Päckchen einfach hinunter. Die Bemühungen der Beamten kosten sie dann ein müdes Grinsen. Einzig wirksame Gegenmaßnahme: der Einsatz von Brechmitteln. Doch dies bringt "Regenbogen" ebenso auf die Palme wie die SPD-Justizsenatorin, die sich jahrelang gegen den Einsatz gewehrt hat. "Regenbogen" will hingegen "Toleranzplätze" einrichten, auf denen offen mit Drogen gehandelt werden darf.
In derselben Zeitung, auf derselben Seite ist dann die Meldung vermerkt, daß der 19jährige Westafrikaner Mohammed Z. in der Wandelhalle des Hauptbahnhofs beim Drogenverkauf vorläufig festgenommen worden sei. Z. sei seit Februar 2000 insgesamt 15mal wegen Dealens "vorläufig festgenommen" worden, sei 28mal in Gewahrsam genommen worden und habe 46 Platzverweise kassiert.
Daß sich angesichts einer solchen Kluft zwischen politischer Phraseologie und absurder Wirklichkeit zunehmend mehr Hamburger nach einer politischen Alternative umsehen, darf kaum wundern. Dem rot-grünen Senat bläst seit Monaten der Wind ins Gesicht. Auch bislang Vorsichtige wagen sich angesichts eines erstmals seit Jahrzehnten möglich erscheinenden Machtwechsels an die Öffentlichkeit. So rebellierte unlängst die sonst so brave Richterschaft medienwirksam gegen die roten Herren. Zuvor beherrschte eine deftige Filz-Debatte die Hansestadt.
Seit 1945 schaffte es die Hamburger Union überhaupt nur ein einziges Mal, die SPD auf die Oppositionsbänke zu verweisen. Und auch damals, von 1953 bis 1957, erreichte sie dies nur mittels eines Bürgerblocks unter Einschluß kleinerer Rechtsparteien. Damals waren es die DP und der BHE, die gemeinsam mit Union und FDP den CDU-Politiker Kurt Sieveking zum Ersten Bürgermeister kürten. Innere Querelen im "Hamburgblock" scheuchten die Hanseaten dann zwar schon bei der nächsten Wahl wieder in die Hände der Sozialdemokraten. Ohne rechten Koalitionspartner aber, das hat CDU-Kandidat Ole von Beust begriffen, ist es der Union seitdem nie wieder gelungen, an der Alster das Heft in die Hand zu bekommen.
Seine Berliner Parteiführung sieht die Hamburger Entwicklung unterdessen mit Argwohn. Öffentlich schweigt die Riege um Merkel und Merz, vemeidet jede direkte Kritik am Vorgehen der Hamburger Parteifreunde. Kürzlich aber erneuerte CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz die alte CDU-Doktrin, daß es "rechts neben der Union keine demokratisch legitimierte Partei geben darf" (auf wen das wohl gemünzt war?). Das sagten schon Strauß und Schäuble, Adenauer praktizierte es, indem er die DP an die Wand spielte. Adenauers Nacheiferer über- sehen jedoch, daß der spätere Ex-Kanzler die Erledigung der DP als den entscheidenden Fehler seiner Politik einsah.
Und er sollte recht behalten: Derzeit können sich die Sozialdemokraten unter drei kleinen Koaltionspartnern frei bedienen Grüne, FDP und PDS stehen allzeit bereit. Die Union hingegen darf auf die Gnade der FDP hoffen oder bleiben, wo der Pfeffer wächst. Wie anders sähe das Parteiengefüge aus, wenn auch die Union die Wahl unter mehreren Partnern hätte.
Überdies: Mit 29 Prozent in den Umfragen liegen die Hamburger Unionisten kaum unter den Ergebnissen der letzten Wahl. Die FDP liegt mit acht Prozent sogar doppelt so hoch. Schills Truppe verstärkt das bürgerliche Lager also auch insgesamt erheblich, erschließt Schichten, die zuvor verloren waren.
Die große Unbekannte an der Elbe bleibt die FDP. Propagandistisch machen die Liberalen einen entschlossenen Wende-Wahlkampf. Insbesondere beim Mittelstand kommt das gut an, der "seine" FDP in Hamburg sonst eher sparsam bedenkt: Seit den 70er Jahren war die ehemalige Dreipunktepartei überhaupt nur noch zweimal im Parlament vertreten, zuletzt bis 1993. Acht Prozent wären da sensationell. Ein Schwenk der Blaugelben hin zu einer "Ampelkoalition" mit Rot-Grün dürfte für den Großteil der mit Wende-rhetorik gewonnenen Neuwähler indes eine herbe Enttäuschung bedeuten.
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