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Die Nacht zum 1. Mai 2004 ist nicht nur durch den Tanz in den Mai gekennzeichnet, sondern auch durch den Tanz in die neue Europäische Union. Nicht nur auf Veranstaltungen der EU-Kommission, der Bundesregierung, des Auswärtigen Amtes und des Berliner Senat s wird das historische Ereignis gefeiert, auch viele große und kleine Orte in den alten wie neuen EU-Mitgliedsstaaten feiern den Beitritt der zehn neuen Länder mit einem besonderen Veranstaltungsprogramm. Das Spektrum reicht von Volksfesten über Sinfoniekonzerte bis hin zu offiziellen Festakten.
Auch das Fernsehen hat diesen besonderen Tag entsprechend bedacht. Schon seit Wochen haben eigentlich alle Sender in Reportagen, Dokumentationen und Talk-Shows sich mit der EU-Erweiterung befaßt und schwerpunktmäßig die neuen Länder vorgestellt. In der Nacht zum 1. Mai wird dann gefeiert, als ob man Silvester habe. Nina Ruge bietet beispielsweise zur "Eurovisions-Gala zur Erweiterung der Europäischen Union" ein buntes Gästeangebot dar. Doch während Cecilia Bartoli singt und Michael Flatleys "Lord of the Dance"-Truppe über das Parkett wirbelt, dominiert bei so manchem Zuschauer - laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sehen 65 Prozent der Deutschen mehr Risiken als Chancen in der Erweiterung - wohl eher das Unbehagen.
In den alten und neuen EU-Mitgliedsstaaten weiß keiner so recht, was nun passiert. Manchen Ängsten wurde mit Sonderregelungen begegnet. So brauchen die Polen keine Angst mehr haben, daß jetzt die Heimatvertriebenen ins Land stürmen und ihr altes Hab und Gut zurückkaufen: eine Sperrfrist für Landerwerb verhindert das. Auch brauchen die Deutschen vorerst keine Furcht haben, daß billige polnische Arbeitskräfte auf den angeschlagenen Arbeitsmarkt drängen, da auch hier eine Sperrfrist beschlossen wurde. Manche Riegel wurden allerdings so brutal vor irgendwelche Befürchtungen geschoben, daß dies viel mehr ein Fest der Sonderregeln als ein Fest zum Beitritt in den Geltungsbereich der EU-Gesetze wird, doch das wird in der EU-Euphorie der politischen Klasse einfach ausgeblendet.
Der schwerwiegendsten, durchaus begründeten Befürchtung der Deutschen, daß ihnen ihre Arbeitsplätze nun in den Osten abwandern, wird inzwischen auch in den Medien Rechnung getragen. Überall liest und hört man, daß Firmen in den Osten gehen, aber die Politik steht hilflos daneben. Dabei ist diese immer deutlicher werdende Entwicklung durchaus nicht neu. Schon seit Jahren verlegen Firmen ihre Produktion in die Niedriglohnländer. Das hat nichts mit EU-Osterweiterung, sondern mit Globalisierung zu tun. So produziert beispielsweise das so deutsch klingende Unternehmen "Kleine Wolke" seine vor allem teuren Badteppiche in Blatna in der Tschechei. Schon im letzten Jahr hat das Bremer Unternehmen die gesamte Produktion dorthin verlagert. Will man jedoch Näheres über die Anzahl der Arbeitnehmer und ähnliches erfahren, schweigt die Firma. Offenbar will man seine Auslandsaktivitäten nicht allzusehr an die große Glocke hängen.
Das amerikanische Unternehmen Otis hat da - genau wie Siemens - allerdings keine Hemmungen. Otis ist das weltgrößte Unternehmen für Aufzüge, Fahrtreppen und Fahrsteige und hat auch ein Werk im niedersächsischen Stadthagen. Dies wird jedoch zum Ende des Jahres zu- gunsten des Werkes in der Tschechei geschlossen. 350 Mitarbeiter im Kreis Schaumburg verlieren dann ihren Job, da die Kollegen des neuen EU-Landes statt 3.000 Euro nur 500 Euro verlangen. Schon nach dem Fall des Eisernen Vorhangs habe die Firma, so Otis, dort Werkstätten übernommen. Diese seien inzwischen vollkommen hinsichtlich der Produktivität mit den deut-schen vergleichbar, und da für die Firmenleitung nur "Made by Otis" statt "Made in Germany" zählt, hat "good old Germany" leider verloren.
Fragt man jedoch die deutsch-tschechische Handelskammer bezüglich der Produktivität der Tschechen, hört man etwas ganz anderes. Selbstkritisch wird hier zwar das günstige Lohnniveau gepriesen, allerdings die Ausbildung der Arbeitnehmer als stark verbesserungsbedürftig angegeben. Demnach wäre Otis Aussage bezüglich gleicher Produktivität als Ausrede für den einseitigen Blick nach Kostenfaktoren zu deuten.
"Die Globalisierung führt auf dem Wege des Güterhandels und des Kapitalverkehrs zu einer Intensivierung der Konkurrenz der Arbeitnehmer. Alle sind nun auf demselben Arbeitsmarkt. Das zieht die einen herauf und die anderen herunter. Leider gehören die einfachen Arbeiter der entwickelten Länder zu denen, die heruntergezogen werden. Aber man kann nichts machen. Wer meint, wir bräuchten uns der Konkurrenz der Billiglöhner nicht zu stellen, indem wir unsere Löhne einfach nicht senken, der treibt das ganze Land ins Verderben. Es gibt nur einen einzigen Weg, die sozialen Konsequenzen abzufedern: Lohnzuschüsse für Geringverdiener." Hans-Werner Sinn, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), stößt jedoch mit seinem Vorschlag auf wenig Gegenliebe, zumal offen ist, woher bei leeren Kassen die Lohnzuschüsse für Geringverdiener kommen sollen.
"Wir sind der Meinung, daß die positiven Aspekte der Globalisierung überwiegen und weltweit die Lebensbedingungen verbessert werden", meint sogar Bernhard Klein vom Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Eine Einstellung, die der Durchschnittsarbeitnehmer nicht nachvollziehen kann, wenn er seinen Arbeitsplatz in Gefahr sieht, schließlich haben wir jetzt schon 4,6 Millionen Arbeitslose.
Daß die neuen EU-Länder auch noch durch EU-Fördergelder für Infrastruktur und ähnliches, die zu einem Großteil vom überschuldeten Deutschland stammen, für die Unternehmen hinsichtlich der Arbeitsplatzverlegung attraktiv gemacht werden, führt zu weiteren Mißstimmungen.
Wo soll das hinführen? Jedenfalls nicht zu guten nachbarschaftlichen Beziehungen, denn dafür ist der Mensch als Individuum zu ichbezogen. Das ist keineswegs negativ zu verstehen, sondern nur natürlich. Wenn hier die eigenen Arbeitsplätze und somit die Existenz in Gefahr sind, kann man nicht erwarten, daß sich die deutschen Bürger darüber freuen, wenn sich die Lebensbedingungen beispielsweise in der Tschechei verbessert haben. Daß das nicht so sehr mit der EU-Erweiterung zu tun hat, sondern - wie gesagt - eine Folge der Globalisierung ist, erfaßt der arbeitslose Deutsche nicht. Der ist einfach nur wütend auf die Neuen, die ihm aus seiner Sicht die Arbeit wegnehmen.
Daß diese Entwicklung jedoch auch für die neuen EU-Mitglieder nicht nur Sonnenseiten hat, zeichnet sich allmählich ab. Wer hofft, daß sich die Löhne und Arbeitsbedingungen denen im Westen anpassen, irrt voraussichtlich. Inzwischen haben schon die ersten Unternehmer auf Forderungen der dortigen Gewerkschaften damit gedroht, einfach in ein noch billigeres Land zu ziehen. Wofür ungarische Arbeiter schließlich immerhin noch 220 Euro im Monat verlangen, wollen die Moldawier nur 80 Euro.
"Wir haben ausbeuterische Verhältnisse in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und in den baltischen Staaten. Die EU muß endlich reagieren und diesen Dumpingwettbewerb der Beitrittsstaaten unterbinden, indem sie verbindliche Standards vorgibt", fordert IG-Metall-Vizepräsident Berthold Huber angesichts dieser Entwicklung, die an die Anfänge der Industrialisierung erinnert, wo Fabrikarbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen für einen Hungerlohn schuften mußten.
Und hier ist tatsächlich die EU gefragt. Das Tun der Unternehmer kann man unter ihrem Hauptziel der Gewinnmaximierung noch verstehen, das ratlose Händeringen der Politiker EU- und sogar weltweit angesichts der gar nicht so neuen Entwicklung entzieht sich jedoch jeglichem Verständnis. Gerade in Deutschland wird sogar noch vor sich hingewurschtelt, als ob alles so wie früher wäre, und die Unternehmen werden damit sogar indirekt dazu aufgefordert, sich vom heimischen Arbeitsmarkt zu verabschieden.
Während also die Politiker ihr Werk der EU-Osterweiterung glanzvoll feiern und von Freundschaft sowie vom Zusammenwachsen reden, überwiegen beim Bürger die Ängste und das Unverständnis. Sich dieser anzunehmen ist die Politik offenbar gera-de wegen der anstehenden EU-Parlamentswahlen nicht gewillt. Fritz Hegelmann
Die Ungarn kommen: Und nicht nur sie. Ab dem 1. Mai ist die Europäische Union um zehn neue Mitglieder angewachsen. Angesichts der blutigen Vergangenheit, vor allem des 20. Jahrhunderts, hofft Europa, auf diese Weise eine friedvolle Zukunft zu schaffen. Doch jeder Schritt aufeinander zu bringt auch Probleme mit sich, denen man sich gemeinsam offen stellen muß. |
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