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Der Schriftsteller Günter Grass ist ein Genie. Einer der Glücksfälle in der deutschen Literatur, wie sie nur alle 50 Jahre vorkommen. Selbst seine schlechtesten Bücher, wie zum Beispiel „Die Rättin“, sind noch besser als die meisten deutschen Romane der Nachkriegszeit . Mehr hat seine Generation nicht hervorgebracht, und damit müssen wir leben. Aber Günter Grass ist auch noch auf einem anderen Gebiet einmalig: Er ist ein genialer Verkäufer seiner eigenen Bücher. Er hat das sogenannte goldene Händchen, um das alle Kollegen ihn beneiden, die Kunst, aus beschriebenem Papier Millionen zu machen, Stroh zu Gold zu spinnen wie Rumpelstilzchen. Ihm wächst ein Kornfeld auf der flachen Hand. Dazu gehört, wie bei allen Produkten, die für einen Markt bestimmt sind, der Instinkt, ein bestimmtes Produkt zum richtigen Zeitpunkt herauszubringen. Vor allen anderen, aber keinen Augenblick zu früh, keinen zu spät, sondern genau auf den Punkt. Was nützt ein Regenschirm in der Wüste? Ein Hybridauto zur Zeit billiger Ölpreise? Es muß da sein, wenn die Ölmultis den Hahn zudrehen. In den prüden 60er Jahren schockiert er die ahnungslosen deutschen Leser mit dem Roman „Die Blechtrommel“, der einen überraschenden Verkaufserfolg erzielt. Nicht zuletzt wegen der ausgefallenen erotischen Vorlieben seines zwergwüchsigen Titelhelden Oskarchen, die als „Stellen“ verschlungen werden und das Buch zum Bestseller machen. Die neue Kritiker- Elite der Gruppe 47, mit Grass befreundet, lobt das Buch über den Klee. Aber zu Recht. Es ist der beste Roman, der nach dem Krieg in deutscher Sprache geschrieben wurde. Auch die beiden Nachfolgebände „Katz und Maus“ und „Hundejahre“ beliefern die Leser mit dieser etwas verqueren, pubertären Pornographie und werden große Verkaufserfolge. Danach geht Grass zielsicher in die Politik. Er unterstützt Willy Brandt, der mächtig im Kommen ist. Singt das „Loblied auf Willy“ und die Es-Pe-De. Nach dem Wahlkampf von 1972 zieht sich der Dichter von der SPD zurück, von der er sich nicht mehr genug beachtet fühlt, erst 1982 trat er wieder in die Partei ein, 1993 aus Protest gegen den „Asylkompromiß“ wieder aus. Er ist ein strenger Herr und leicht beleidigt. 1988 in den Vorstand des „Verbandes deutscher Schriftsteller“ (VS) eingetreten, verließ er diesen Posten im Dezember des gleichen Jahres nach einem Streit mit Kollegen. 1987 wurde er Beirat im Autorenrat des Luchterhand-Verlags. 1992 schied er, auch mit diesen Kollegen verkracht, aus Autorenrat und Verlag aus und läßt seine Bücher seitdem im Steidl-Verlag vertreiben. Eine Sternstunde für Steidl. Schon 1983 erklärte er in einer Sendung des Österreichischen Fernsehens zusammen mit Wolfgang Hildesheimer, daß sie „angesichts der drohenden Katastrophe“ (Erderwärmung, Atomkrieg?) aufhören wollten, zu schreiben. Grass hielt diesen Schwur nicht, sondern schrieb den Roman „Die Rättin“, ein Versuch, sich an die Ökobewegung und ihre Trends anzuhängen. Danach sucht er sein Heil in Indien, kommt ziemlich schnell und enttäuscht zurück und schreibt, schon von Krankheit gezeichnet, den gewaltigen 784- Seiten Roman „Ein weites Feld“. Ein bewundernswerter, fast rührender Versuch, in Anlehnung an sein Vorbild Fontane zu dem alten schönen Erzählton der frühen Jahre zurückzufinden. Ein epischer Fluß ohne Ufer, politisch ein verbittertes, grantiges Alterswerk gegen die Wiedervereinigung, in dem sein Haß gegen die siegreiche Bundesrepublik durchschlägt und er die DDR, die er 1961 in einem Brief an Anna Seghers ein von Ulbricht kommandiertes „Konzentrationslager“ genannt hat, jetzt als eine „kommode Diktatur“ bezeichnet. Danach wird es still um ihn. Hat Grass sich ausgeschrieben? Da entdeckt der Danziger plötzlich 2002 sein Herz für die Flüchtlinge aus dem deutschen Osten, beschreibt Flucht und Vertreibung und den Untergang der „Wilhelm Gustloff“. Der politische Trend ist, 57 Jahre nach Kriegsende, umgeschlagen. Die Vertreibung und Ermordung von Millionen Deutschen im Osten ist zum Thema öffentlicher Erörterung geworden. Ganze Serien von Dokumentarfilmen laufen zur besten Sendezeit im Fernsehen, Reportagen über das Schicksal der Deutschen nach Kriegsende erscheinen in den großen Bildblättern.
Eine öffentliche Diskussion beginnt, die den Wunsch der Vertriebenen nach einem Dokumentationszentrum in breiten Kreisen verstehbar macht. Der Plan des Bundes der Vertriebenen, in Berlin ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu etablieren, findet bis in die Reihen der Regierungsparteien hinein Verständnis. Genau in diesem Augenblick erscheint Grass’ Buch über das Ende der „Wilhelm Gustloff“, über deren Torpedierung vorher nicht geschrieben und gesprochen werden sollte, weil die Versenkung des Schiffes mit über 10000 Flüchtlingen an Bord die Alliierten schlecht aussehen ließ und man über Kriegsverbrechen an Deutschen am besten nicht sprach. Grass’ Buch „Im Krebsgang“ verstärkt den Trend und kanalisiert ihn zugleich: Das Buch wird ein Verkaufserfolg, es steht monatelang auf den Bestsellerlisten. Die Überlebenden der Kriegsverbrechen haben vergeblich auf Grass gehofft, der Verleger nicht. Wieder, 60 Jahre nach Kriegsende, gibt es einen neuen Trend in der öffentlichen Diskussion: eine nüchterne, unbefangene Diskussion über bestimmte, lange tabuisierte Themen. Über die Zeit vor 1945, die NS-Zeit: Über Prominente, die mitgemacht haben. Der Bildhauer Arno Breker, der Architekt Albert Speer, der Schriftsteller John Knittel (Via mala), die Filmregisseurin Leni Riefenstahl, der Komponist Richard Strauss, der Schauspieler Gustaf Gründgens. Alle waren „verstrickt“, aber zu Unrecht verfemt. Ein auffälliger Trend. Der Verleger Steidl hat auch diesmal eine Erstauflage von 50000 für das neue Buch von Grass drucken lassen. Er hätte ebensogut 100000 drucken können. „Ich war bei der Waffen-SS!“, auf allen Kanälen, eine achtseitige Sonderbeilage in der „FAZ“ zum Erst-Verkaufstag am 19. August, das ist wahrhaft großes Marketing. Gigantisch. Wie Brekers Statuen. Hitlerjugend - warum nicht? Alle waren ja begeistert dabei und freuten sich über den Grundsatz „Jugend soll von Jugend geführt werden“. Grass war dabei und glaubte bis 1946 nicht an den Massen- Mord an den Juden. Waffen-SS - warum nicht? Es war schließlich eine kämpfende Truppe, gefürchtet bei allen Gegnern. Freiwillig hat sich der 15jährige gemeldet, weil er eigentlich zur Marine wollte und sich die Kriegsfreiwilligen die Waffengattung aussuchen konnten. Aber plötzlich kam die Einberufung zur SS. Stand da überhaupt SS auf dem Einberufungsbefehl? Der fast 80jährige kann sich daran nicht erinnern. „Das weiß ich nicht mehr“, sagt er im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“. Der Chef des Feuilletons und Mitherausgeber der „FAZ“ Schirrmacher, der das Gespräch führt, traut seinen Ohren nicht. Da hätte der Dichter ja gleich nach dem Erscheinen des Buches von Franz Schönhuber über die Waffen-SS „Ich war dabei!“ ausrufen müssen „Ich auch!“ Was aber so leicht nicht vergessen werden wird, ist das Treffen von Kohl und Reagan über den Massengräbern von Bitburg. Unter den Tausenden Toten beider Nationen waren auch Angehörige der Waffen-SS. Die Linke lief Sturm. Und Grass nannte diese Totenehrung „eine Geschichtsklitterung, deren auf Medienwirkung bedachtes Kalkül Juden, Amerikaner und Deutsche gleichermaßen verletzte“. Hat er alles vergessen? Oder alles verheimlicht? „Ich breche mein Schweigen“, sagt Grass heute. Er hat zu lange geschwiegen, finden wir.
Klaus Rainer Röhl (77) war bis 1944 am Danziger Conradinum Mitschüler von Günter Grass, in der Parallelklasse. Im März 1945 wurde er zusammen mit anderen 16jährigen mit einem Marschbefehl zur Dienststelle der Waffen- SS in Hamburg, Besenbinderhof geschickt. Sie erklärten, den Marschbefehl bei einem Tieffliegerangriff verloren zu haben und meldeten sich bei der Wehrmachts- Sammelstelle, ein Stockwerk höher. Bei Kriegsende war er in Dänemark. |
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