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Die Autobiographie der DDR-Bürgerrechtlerin und heutigen CDU-Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld unterscheidet sich von anderen Politikerbüchern in dem Maße, wie ihr Leben sich von den stromlinienförmigen Lebensläufen durchschnittlicher heutiger Politiker abhebt. Sie berichtet von unvorhersehbaren Wendungen und Brüchen sowie eingestandenen Irrtümern und Extremsituationen.
Ihre Selbstbeschreibung setzt bei der Großelterngeneration ein. Einer ihrer Großväter stammte aus dem Sudentenland. 1945 wurde er von tschechisch en "Revolutionären Garden" schwer gefoltert. Aus Scham darüber erhängte er sich. Ihr Vater wurde 15jährig in die Zwangsarbeit verschleppt und ebenfalls mißhandelt. Er trug eine Knochentuberkulose davon. Von den Ärzten aufgegeben, überstand er die Krankheit nur Dank seines unbändigen Lebenswillens.
So wie man sich im Westen vor den Schrecken und Entbehrungen des Krieges in den Wohlstand flüchtete, verinnerlichten Lengsfelds Eltern, die in Thüringen, später in Ost-Berlin lebten, die Verheißungen des SED-Staates, der seinen Bürgern, sofern sie sich anpaßten, gleichfalls ein bescheidenes Wohlleben ermöglichte. Zweifel und dunkle Erinnerungen wurden, um psychisch zu überleben, mit erprobter Willensstärke verdrängt: Lengsfelds Vater stieg in die Offiziersuniform der NVA wie in ein Korsett.
Wie konnte aus einem derart linientreuen Elternhaus eine der bekanntesten Regimegegnerinnen hervorgehen? Ihr innerer Kompaß scheint Lengsfeld, Jahrgang 1952, prädestiniert zu haben, mit der DDR in immer größere Konflikte zu geraten. Gerade weil ihre Eltern so systemnah waren, nahm sie die Verbiegungen und Unaufrichtigkeiten, zu denen der Staat die Menschen zwang, um so schärfer wahr. Intellektuelle Wachheit und Neugierde sowie ein starkes Gerechtigkeitsgefühl summierten sich zum elementaren Bedürfnis nach einem "Leben in der Wahrheit" (Václav Havel).
Auf einer Reise in die Sowjet-union gewinnt das sprachbegabte Mädchen sein eigenes, in keinem Reiseprogramm vorgesehenes Bild vom Leben im Vaterland aller Werktätigen. Als Abiturientin verliebt sie sich in einen auffallend schönen jugoslawischen Diplomatensohn, was aufgrund der internationalen Konstellation - Jugoslawien gilt als "quasi kapitalistisches Ausland" - eine Provokation bedeutet. Als die Polizei ihren Vater informiert, verprügelt der sie so sehr, daß ihr Arm in Gips gelegt werden muß. Solche Schilderungen kommen offen, eindringlich, ungeschützt daher. Das verleiht auch ihren politischen Ausführungen das Pathos der Aufrichtigkeit.
Eine Zeitlang glaubt sie an die Reformierbarkeit der DDR. Während ihrer Tätigkeit am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften tritt sie der SED bei. Die Biermann-Ausbürgerung, die Bekanntschaft mit anderen Dissidenten, die Militarisierung der DDR-Schule - von der die Mutter dreier Kinder sich besonders betroffen fühlt - sind Etappen zu oppositionellen, später sogar als "staatsfeindlich" eingestuften Positionen. Noch bevor sie auf der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 ein selbstgefertigtes Plakat entrollen kann, wird sie, zusammen mit weiteren Mitstreitern, festgenommen und nach kurzer Haft in den Westen abgeschoben. Dieser Weggang löste in der DDR Verwirrung aus. Detailliert schildert Lengsfeld das Zusammenspiel von Stasi, Rechtsanwälten und DDR-Kirchenfunktionären, das die Inhaftierten in ein Gefühl tiefer Verlassenheit stürzte und sie so in die Ausreise einwilligen ließ.
An den gängigen Vorstellungen von Politik gemessen, war das Wirken der DDR-Opposition unspektakulär. Sie sind, wie Lengsfeld zeigt, ein falscher Maßstab. Opposition in der DDR war der Versuch, Freiräume für selbständiges Handeln zu gewinnen, unkontrollierte Kontakte zu knüpfen, alternative Sprech-, Sicht- und Denkweisen zu erproben, parallele Strukturen aufzubauen und schließlich aus dem Schutz, den die Kirche gewährte, an die Öffentlichkeit zu treten. Die Stasi erkannte die Gefahr und entwickel- te Zersetzungsstrategien von perfider Perfektion.
Auch Lengsfelds Kinder waren Zielschieben für Zermürbungsversuche. Nach dem Ende der DDR wurde ihr Ehemann sogar als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) enttarnt. Wer das gelesen hat, versteht ihre Erregung, die sie beim Anblick selbstzufriedener PDS-Abgeordneter und Stasi-Generäle bis heute befällt.
Andererseits stellt sich die Frage, ob der moralische Rigorismus der DDR-Opposition nicht auch Zeichen, Auslöser und Kompensationsversuch ihrer politischen und intellektuellen Schwäche war. Rückblickend sieht Lengsfeld das selbstverhängte Kontaktverbot zur Westpresse, die Distanzierung von ausgereisten Regimegegnern oder die Ausblendung der nationalen Frage als Fehler an.
Im Grunde bestätigt sie eine schon vor zehn Jahren erstellte Analyse des Soziologen Wolfgang Engler, der im lange anhaltenden "Pro-DDR- und Pro-Sozialismus-Votum" der DDR-Opposition zweierlei sah: "Das trotzige Bestehen auf den eigenen Idealen, für die man bezahlt hatte, und das intuitive Gespür, daß man die DDR, erneuert zwar, aber staatlich souverän, benötigte, und zwar als einen ,intellektuellen Schutzwall , der einen davor bewahrte, die subjektiv behauptete intellektuelle Kompetenz in einem offenen kulturellen Wettbewerb unter Beweis stellen zu müssen."
Dieser Befund schließt die Tatsache ein, daß es dem SED-Regime gelang, selbst seine schärfsten Gegner auf das ihm eigene, provinzielle Format zurückzustutzen und die Entwicklung der Opposition zu einer politisch-intellektuellen Gegenmacht zu paralysieren. Darin unterscheidet die DDR sich von Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Diese Tatsache sollte nicht länger verdrängt, sondern als Beleg für das Ausmaß des Zerstörungswerks der SED und als Argument gegen ihre Nachfolger verwendet werden. Nur so haben die SED-Opfer die Chance, die falschen Parteigänger von einst auch in der Arena der Mediendemokratie zu besiegen. Vera Lengsfeld hat diesen Kampf aufgenommen.
Vera Lengsfeld: "Von nun an ging s bergauf - Mein Weg zur Freiheit", Langen Müller, München 2002, 387 Seiten, Abb., 19,90 Eur |
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