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Der Angriff auf die Sowjetunion im Zusammenhang der Weltmachtpolitik

 
     
 
Man hat nicht selten gemeint, Molotows Offenherzigkeit bei seinem Berlin-Besuch im November 1940 sei eine weltpolitisch folgenreiche Fehlleistung des ansonsten eher wortkargen und präzis überlegenden Außenkommissars gewesen, denn sie habe Hitler in seinen Angriffsplänen wesentlich bestärkt. Doch es war eine bewußte, im Auftrag Stalins erfolgte Provokation, die den Deutschen den Erstschlag und damit das Odium des Aggressors zuschieben sollte. Damit hat der Herr im Kreml, kaltblütig und von langer Hand planend, die erste Komponente des psychostrategischen Mythos
vom "faschistischen Überfall" vorbereitet.

Doch es mußte auch ein "wortbrüchiger" Überfall sein. So war der rote Diktator am Fortbestand des Paktes vom 23. August 1939 interessiert. Das zeigt ein erst kürzlich bekannt gewordenes Detail. Molotow berichtete nämlich seinem Chef mehrmals telegraphisch über den Fortgang der Verhandlungen, wobei er auch erwähnte, er habe Ribbentrop erklärt, daß er "die sowjetisch-deutschen Abkommen vom vorigen Jahr im Laufe der Ereignisse mit Ausnahme der Finnland-Frage als erschöpft betrachte". Prompt kam die berichtigende Antwort: "Man sollte sagen, daß das Protokoll zum Nichtangriffsvertrag, nicht der Vertrag selbst erschöpft sei. Den Ausdruck ,Erschöpfung des Vertrages‘ können die Deutschen als Erschöpfung des Nichtangriffsvertrages auslegen, was nicht richtig wäre."

Schließlich sollte es ein wortbrüchiger Überfall auf die "friedliebende" Sowjetunion sein. Daher lautet der Punkt 10 der Instruktionen: "Eine Friedensaktion in Form einer offenen Deklaration der Vier Mächte (wenn ein günstiger Verlauf der Hauptverhandlungen: Bulgarien, Türkei usw. klar wird) vorschlagen, mit der Bedingung der Erhaltung des Großbritischen Reiches (ohne Mandatterritorien) mit allen Besitzungen, die England heute hat, unter Voraussetzung der Nichteinmischung in die europäischen Belange und des sofortigen Abzugs aus Gibraltar und Ägypten sowie auch der Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe der früheren deutschen Kolonien." Wir werden diese Motive Punkt für Punkt in Stalins Rundfunkrede vom 31. Juli 1941 wiederfinden.

Wie weit die Sache mit der Friedensaktion überhaupt ernst gemeint war, ist fraglich. Friedensinitiativen bildeten einen notorischen Teil der sowjetischen Kriegspolitik. Auch ist nicht einzusehen, welches Interesse Moskau an der Beendigung des von langer Hand vorbereiteten und sich vielversprechend entwickelnden Krieges gehabt haben könnte, zumal in einer Mächtekonstellation, die dem Leninschen Konzept völlig widersprach und in der die Gefahr einer "kapitalistischen Einkreisung" fortbestand. Fraglich ist auch, ob Moskau an die Annehmbarkeit seines – wohl auch im Hinblick auf seine mögliche Veröffentlichung – gemäßigten offiziellen Vorschlages vom 26. November 1940 geglaubt hat, denn er enthielt noch immer im Hinblick auf Finnland, Bulgarien und die Meerengen für Deutschland inakzeptable Punkte.

Doch das besaß kaum mehr Bedeutung, nachdem Molotow im Luftschutzkeller der Berliner Sowjetbotschaft seine Forderungen gestellt hatte, angesichts derer – wie Göring es später formulierte – "wir fast vom Stuhl gefallen sind". Deutschland hatte nur mehr die Wahl, zu kämpfen oder sich zu unterwerfen.

Im Hinblick auf die nun heranrückende bewaffnete Auseinandersetzung mögen einige Bemerkungen zum militärischen Bereich am Platze sein. Unter Stalin begann der Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes, welcher der Sowjetunion eine "geradezu unvorstellbare" Rüstung verschaffen und dessen Leistungsfähigkeit sich dann trotz seines noch unfertigen Zustandes und des Verlustes wichtiger Gebiete im Westen erweisen sollte. Auch qualitativ konnte er hochwertige Produkte bereitstellen: den legendären T 34, die gefürchtete "Stalinorgel", die IL 2, das damals beste Schlachtflugzeug, oder das "Ratsch-Bum", das 76,2 mm Allzweckgeschütz der Divisionsartillerie. Von dem enormen Flottenbauprogramm war bereits im , Folge 17 die Rede, und zu Kriegsbeginn verfügte die Rote Armee schon über mehr als 300 Divisionen, darunter etwa 60 Panzer- und 30 mot. Schützendivisionen. Nach der entsprechenden Militärdoktrin sollte jeder Angriff sofort mit einem vernichtenden Gegenschlag beantwortet, der Gegner auf seinem eigenen Territorium zerschmettert und so mit geringen Verlusten ein leichter Sieg errungen werden. Hätten die Deutschen die Rote Armee nicht in der Schwächephase des noch im Gange befindlichen Aufmarsches angetroffen, so wäre die Rechnung des Moskauer Generalstabes wahrscheinlich aufgegangen.

Die Planung für den Krieg mit Deutschland durchlief verschiedene Phasen und gipfelte in dem bekannten Schukow-Plan vom 15. Mai 1941. Wie auch jüngste repräsentative russische Darstellungen bestätigen, sah dieser vor, das Gros der Wehrmacht in Polen und Ostdeutschland durch eine doppelte Umfassung – ein Spiegelbild der deutschen Operationen im Polenfeldzug – zu vernichten, was den Weg zum Atlantik geöffnet hätte. Man hat versucht, diesen Plan zu einer bloßen Studie zu verharmlosen, doch die zu Kriegsbeginn an die grenznahen Militärbezirke (bzw. Fronten) ergangenen Befehle entsprechen geradezu wortwörtlich den Formulierungen des Planes. Überdies sollte nicht übersehen werden, daß dieser gegebenenfalls auch für einen Erstschlag geeignet gewesen wäre.

Als Illustration mögen noch die Stärkeverhältnisse dienen, die nach Abschluß des russischen Aufmarsches am Lemberger Frontbogen bestanden hätten, aus dem ja der Hauptstoß hervorbrechen sollte: bei den Schützendivisionen 74 zu 22, bei den Panzerdivisionen 28 zu 5, bei den mot. Infanteriedivisionen 15 zu 4. Eine gewaltige Übermacht, auch wenn man bedenkt, daß die russischen Divisionen einzeln betrachtet zahlenmäßig schwächer waren als die deutschen.

In politischer Hinsicht hatte der Molotow-Besuch die Lage weitgehend geklärt. Zwar suchte Moskau eine Kündigung des Hitler-Stalin-Paktes durch wirtschaftliches Entgegenkommen zu verhindern, und Hitler kündigte ihn auch nicht, doch am 18. Dezember 1940 unterschrieb er die schicksalsschwere Weisung "Barbarossa", die aber bald in Moskau bekannt wurde. Während jedoch die Berliner Diplomatie zu diesem Zeitpunkt ihre Möglichkeiten ungefähr erschöpft hatte, gelang Stalin bald darauf ein weltmachtpolitischer Erfolg.

Durch den Neutralitätspakt mit Japan vom 13. April 1941 verschaffte er sich eine Rückendeckung für den Zusammenstoß mit Deutschland und ermutigte das Inselreich zu einem Konflikt mit den Vereinigten Staaten, was nicht nur die Fortsetzung einer alten Linie russischer Amerikapolitik war, sondern den "imperialistischen Krieg" im Sinne Lenins auf den Pazifik ausdehnen sollte.

Dabei fehlte in dem Vertrag wie im Hitler-Stalin-Pakt die sonst übliche Klausel, die Partner würden von ihren Verpflichtungen entbunden, sobald einer von beiden eine Aggression gegen eine dritte Macht vornehme. So konnte der Vertrag auch auf den Fall eines russischen Angriffs auf Deutschland oder eines japanischen auf die Anglo-Amerikaner bezogen werden. In diesem Sinne arbeiteten Agenten und Sympathisanten der Sowjetunion in den USA auf eine Konfrontation mit dem Inselreich hin und schwerwiegende Indizien sprechen dafür, daß Roosevelt die Japaner zum Angriff provoziert hat – ähnlich wie das Stalin mit den Deutschen getan hatte. So wollte der Herr im Kreml die Westmächte in einen Zweifrontenkrieg verwickeln und zur Zersplitterung ihrer Kräfte zwingen, während er selbst – nur an einer einzigen Front engagiert – die Hand auf Europa legen und so das alte Schreckgespenst der russischen Politik, das Zusammengehen Deutschlands mit dem Westen, ein für allemal erledigen konnte. Bereits am 5. Mai stimmte Stalin in einer Rede vor Absolventen der Militärakademie die Anwesenden auf einen offensiven Krieg mit Deutschland ein, wobei er nach einem späteren Interview mit dem Armeegeneral Ljaschtschenko, der als Major bei der Rede anwesend gewesen war, es als ein Glück bezeichnet haben soll, wenn man mit politischen Mitteln den Beginn des Krieges um zwei, drei Monate hinauszögern könnte. Das wurde auch durch eine Reihe deutschfreundlicher Gesten und pünktliche Lieferungen versucht. Dabei handelte es sich nicht – wie mitunter behauptet – um den Versuch eines längerfristigen Appeasement, sondern um einen kurzen, taktischen Zeitgewinn und die Demonstration friedfertiger Gesinnung. Zwei Tage später übernahm Stalin, der bisher seine Macht eher im Hintergrund ausgeübt hatte, von Molotow die Funktion des Präsidenten des Rates der Volkskommissare, wohl um bei den von ihm erwarteten Erfolgen vor aller Öffentlichkeit in der Glorie des Siegers dazustehen, während kurz darauf der spektakuläre Flug von Rudolf Hess nach England dem alten Gespenst einer Verschwörung der "kapitalistischen" Mächte wieder einige Aktualität zu verleihen schien.

Schließlich veröffentlichte noch die sowjetische Nachrichtenagentur TASS am 14. Juni 1941 angesichts der allgemein verbreiteten Gerüchte über einen nahe bevorstehenden Krieg zwischen der UdSSR und Deutschland eine amtliche Erklärung, daß weder Deutschland die Sowjetunion angreifen wolle noch umgekehrt. Die betreffenden Gerüchte seien böswillig erlogen und provokatorisch. So sollte im Sinne des bekannten Mythos der erwartete und zum Teil provozierte Angriff der Wehrmacht als heimtückischer und wortbrüchiger Überfall auf die vertrauensvolle und friedliebende Sowjetunion erscheinen.

Der Erfolg dieser schon mit dem Molotow-Besuch von langer Hand eingeleiteten Psychostrategie spricht dann – was offenbar kaum bemerkt wird – aus Stalins Rundfunkrede vom 3. Juli 1941. Militärisch hatte es zwar unerwartete Rückschläge gegeben, die der Diktator aber herunterzuspielen suchte, doch politisch war die Rechnung voll aufgegangen. Die Sorge wegen einer Allianz der "kapitalistischen" Mächte hatte sich als gegenstandslos erwiesen, vielmehr war die Anti-Hitler-Koalition mit den Westmächten – den eigentlichen Angriffszielen der Sowjetpolitik – eingeleitet. "Es ist verständlich", so heißt es in der Ansprache, "daß unser friedliebendes Land, das die Initiative zur Verletzung des Paktes nicht ergreifen wollte, den Weg des Wortbruchs nicht beschreiten konnte", vielmehr hat das faschistische Deutschland "unerwartet und wortbrüchig den … Nichtangriffspakt zerrissen". Man erinnere sich daran, daß Stalin im November 1940 seinem Außenkommissar eingeschärft hat, der Vertrag müsse aufrecht bleiben. Nun hat Deutschland durch den vertragsbrüchigen Überfall zwar "für kurze Zeit eine gewisse vorteilhafte Lage für seine Truppen erzielt, hat aber in politischer Hinsicht verloren, da es sich in der Welt als blutiger Aggressor entlarvt hat". Dieser kurzfristige Gewinn sei nur eine Episode, "während der gewaltige politische Gewinn für die Sowjetunion ein ernster Faktor von langer Dauer ist".

Diesen Gewinn malt dann Stalin geradezu hymnisch aus: "Das eben ist der Grund, weshalb unsere heldenmütige Armee … alle Völker unseres Landes, alle besten Menschen Europas, Amerikas und Asiens und schließlich alle besten Menschen Deutschlands die wortbrüchigen Handlungen der deutschen Faschisten brandmarken" werden usw. "Unser Krieg für die Freiheit unseres Vaterlandes wird verschmelzen mit dem Kampf der Völker Europas und Amerikas für ihre Unabhängigkeit, für die demokratischen Freiheiten. Das wird die Einheitsfront der Völker sein, die für die Freiheit, gegen die Versklavung und drohende Unterjochung durch die faschistischen Armeen Hitlers eintreten."

Aus dieser Hymnik ist wohl auch die Befriedigung darüber herauszuhören, daß nun eine weltumspannende Sympathie- und Solidaritäts-, aber auch Täuschungskampagne eingeleitet werden konnte, die bald den wohl bisher in der Geschichte größten Erfolg psychologisch-propagandistischer Kriegführung erzielte. Das wäre bei einem Erstschlag unmöglich gewesen.

Freilich sollte nach Stalins raffiniertem Konzept dessen psychostrategische Komponente dergestalt mit der militärstrategischen koordiniert sein, daß die vorbereitete Großoffensive vor den Westmächten als Reaktion auf den deutschen "Überfall" getarnt werden konnte. Doch "Barbarossa" erfolgte eher zufällig noch bevor die Rote Armee zu dem machtvollen Gegenstoß bereit war. Daraus ergab sich ein fast vierjähriger erbitterter Krieg, den die Sowjetunion militärisch gegen Deutschland, politisch aber unter dem Schleier der Anti-Hitler-Koalition weiterhin gegen die Westmächte führte, was diese aber trotz der Warnungen einiger scharfsichtiger Beobachter kaum begriffen, bis der latente Konflikt im Kalten Krieg offenkundig wurde.

Schluß

Prof. Ernst Topitsch lehrt Geschichte an der Universität Graz

 
     
     
 
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