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Es ist ein stiller Sonntagmorgen, die Straßen sind leer, nur in einem kleinen Studio herrscht Hochbetrieb. Die Tür des provisorisch eingerichteten Fotoateliers in einem abgeblätterten 60er-Jahre-Ladenlokal irgendwo im Westen der Hamburger Innenstadt fällt nicht zu, junge Menschen geben sich die Klinke in die Hand. Auf der Straße die wohl einzige Schlange Wartender an diesem Tag in der ganzen Stadt. Auf die berechtigte Frage "Was n los?" ertönt das Zauberwort, das die Herzen junger, medial verwöhnter Zeitgenosse n noch höher schlagen läßt als "Handy" oder "Love Parade". Es heißt "Casting". Das englische Wort für "aussuchen" aber auch "auswerfen" steht inzwischen für Traum und Wirklichkeit des Berühmtseins. Ohne dieses können "hippe" Menschen nicht mehr sein, denn nur wer gecastet wird, kommt ins Fernsehen, und was im Fernsehen "kommt", ist das wahre Leben.
Ob Jörg Pilawa, der für seine Quizshow das Publikum einer Vorauswahl unterzieht, oder die kleine Modelagentur, die für nur sekundenlange Werbung ein neues hoffnungsvoll strahlendes Gesicht in ihre Kartei aufnimmt - ganz Deutschland scheint im Casting-Fieber zu sein. Die zahllosen Gerichtsseifenopern im Nachmittagsprogramm des privaten wie öffentlich-rechtlichen Fernsehens und das Alltagsrealität vorgaukelnde Containerfernsehen des "Großen Bruders" RTL benötigen laufend unverbrauchte Gesichter. Menschen von nebenan sind gefragt wie nie in den Medien. Ihr Leben, ihre kleinen und großen Macken, Sorgen, Liebeleien sind Gegenstand unzähliger Folgen der TV-Vorabendserien "Gute Zeiten, Schlechte Zeiten" oder "Marienhof", in denen wenig geübte Laienschauspieler auf die große TV-Karriere hinarbeiten. Wer es schafft, sprich irgendwie auffällt, darf vielleicht die eigene Show moderieren wie Carsten Spengemann, der, "Unter Uns" gesprochen, auch einer Seifenopernbesetzung entsprungen ist.
Richtig geschafft haben es die immer neuen "Superstars", "Supermodels" und "Supercomedians", die in abendlichen TV-Shows vor Millionenpublikum öffentlich ermittelt werden. Sie dürfen sich von einer Jury auch mal persönlich abwerten lassen - live und ohne Gnade. Trotzdem: selbst stundenlanges Warten auf Casting-Veranstaltungen in Hotels, überfüllten und öden Agenturen schreckt offensichtlich nicht ab. Marion, beispielsweise, läßt sogar die genaue Einweisung der Regie über das gewünschte Klatsch-Verhalten im TV-Studio über sich ergehen, nur um ihren Lieblingsmoderator direkt erleben zu können. Zu sehen sein wird sie auf den Bildschirmen zu Hause nicht.
Enttäuscht berichtet sie, daß sogar die Zuschauer bei der Quizshow eine peinliche Gesichtskontrolle durchlaufen. Wer zu häßlich ist, sitzt hinten. Das wird lustig organisiert, ist aber ernst, denn für die Sender geht es um Einschaltquoten, also um bares Geld. Musiktalent-Shows wie "Star Search" auf Sat.1 brachten dem Sender eine Einschaltquote von über 16 Prozent bei der für die Werbung relevanten Zielgruppe. Kein Wunder also, daß Casting auch dort beliebt ist, bringt dieses Prinzip Fernsehen mit "Stinknormalen" doch nicht nur lukrative Werbeaufträge zu höheren Preisen, es ist auch noch spottbillig, denn die Darsteller verlangen keine Gage, nicht mal die eines Soap-Sternchens.
Der 22jährige André hat schon so manches Casting mitgemacht. In einer Boyband zu singen und sogar einen Hit zu haben war bisher das Größte für den jungen, in Deutschland lebenden Bosnier. Doch mit dem Hit kam nicht automatisch die Karriere. Die Band "hat sich dann halt aufgelöst, Geld gab es keins. Nur ganz selten quatschen mich noch mal Leute an und fragen, hast du nicht ... " Ja, er hat. Das Casting-Fieber ist noch eine Weile geblieben. Bei Modelagenturen und Castings ist er nach wie vor dabei, blödelt sich mit den anderen Aspiranten über die Nervosität hinweg, flachst und hofft, wieder vor die Kamera zu kommen. Casting heißt warten können. Oft entscheidet der Zufall: "Du mußt halt gut drauf sein, locker", sagt der Sportbegeisterte. Ein perfekter Sänger ist er nicht geworden, die Eitelkeit schult der gnadenlose Auswahlwettbewerb um so mehr. Mit einem Griff an seinen straffen Bauch meint er: "In mir steckt ein dicker Mann, und der will raus!"
Raus wollen auch Andrés Mitbewerber. Raus aus dem Alltag, einfach testen, wie gut sie wirklich sind, oder schlichtweg das Casting selbst zum Erlebnis machen, nette oder verrückte Leute kennenlernen. Gelegenheit dazu gibt es reichlich, selbst Kinder sind auf Castings selten ohne Altersgenossen. Ehrgeizige Mütter und Väter sind inzwischen für die Sender ein Problem, wie Psychologin Julia-na Franziska Alon weiß. Als offizielle Beraterin betreute sie RTL-Castings: "Je höher die Erwartun- gen, desto bitterer die Enttäuschungen, wenn es nicht klappt", verriet sie der Zeitschrift Für Sie. Manche Eltern drängen den Nachwuchs zum Casting, schaden den Kindern mehr, als ihnen zu nutzen. Überhaupt ist Schönheit an sich selbst bei den ganz Kleinen nicht mehr ausreichend, wie Brancheninsider betonen. Spontaneität und Ausstrahlung sind mindestens ebenso begehrt.
Die Gründe, die junge und sich jung fühlende, aber auch zunehmend ältere Zuschauer zu den zahlreichen kleinen und großen Castings stürmen lassen, sind, wie das Phänomen selbst, Ausdruck des Zeitgeistes. Für jeden Casting-Typen gibt es eine Show: der Geltungssüchtige grölt mittags bei "Vera am Mittag" oder in den Justizpossen, wer Lebensberatung oder persönliche Erfahrung sucht, geht zu "Zwei bei Kallwas". Richtig groß raus kommen jedoch auch die "Superstars" des Abendprogramms selten. Was der Trend nämlich verschweigt, ist, daß ohne Talent oder wenigstens harte Arbeit niemand zum Star wird und es auch bleibt. Echte Talente fühlen sich von der Castingwelle eher abgeschreckt. Ihnen sind angesichts der Absprachen und des platten Populismus der Shows womöglich schlechtere Chancen beschieden als je zuvor, insofern fördert die mediale Auslese auch Negatives. Der Drang, berühmt zu sein, wird wohl noch existieren, wenn wir uns lächelnd der Casting-Euphorie erinnern.
Hoffen auf die große Chance: Jugendliche warten auf Probeaufnahmen für eine Fernsehsendung. |
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