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Falsche Toleranz Wann erwachen die Kirchen? von Prof. Dr. Küssner Das Gebot der Nächstenliebe ist - wie alle Gebote - an die Person gerichtet, doch spricht nichts dagegen, daß sich auch Institutionen, also Kirchen oder ihnen nahestehende Organisationen, mit dem befassen, was wir gemeinhin als Wohltätigkeit bezeichnen. Und wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zum Ausdruck bringt, ist es durchaus im Sinne des Gebotes, auch bedürftigen Fremden - egal welcher Herkunft und Konfession - Hilfe angedeihen zu lassen.
Wer anderen Gutes tut oder solches zu tun vermeint, ist nicht verpflichtet, sich davon zu überzeugen, ob der Begünstigte die Hilfe braucht, ob er sie moralisch verdient und ob nicht andere würdiger wären. Institutionelle Wohltäter müssen allerdings bedenken, daß sie „in der Auslage stehen“ und daß man von ihnen eine gewisse Gerechtigkeit erwartet. Wenn sie dem nicht Rechnung tragen, können sie unedle, ja „sündige“ Gefühle und Reaktionen auslösen, also den gestifteten Nutzen durch herbeigeführten Schaden ins Gegenteil verkehren. Und wer sich über die Folgen seines willentlichen Handels im klaren ist, hat auch die Folgen zu verantworten.
In dieser Hinsicht ist bei den Kirchen - katholisch e und protestantische Gemeinden sind hier gleichermaßen angesprochen - eine befremdliche Fahrlässigkeit eingezogen: Man übernimmt nur allzugern die Postulate weltlicher Internationalisten. Man vernachlässigt die Unterscheidung zwischen echten Flüchtlingen und Leuten, die nicht wegen äußerer Zwänge, sondern um persönlicher Vorteile willen eine neue Heimat suchen. Und manchmal leistet man sogar der Verletzung weltlicher Gesetze Vorschub - was einem anderen christlichen Auftrag widerspricht, nämlich „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“.
Anstößig ist vor allem eine neuartige „Toleranz“. Sie kommt ebenfalls von jenen falschen Propheten, die zwar ständig über Toleranz reden, aber in Wahrheit ihren fanatischen Tolerantismus durchsetzen wollen. Wie sollen es christliche Schäfchen verstehen, wenn christliche Hirten die Ausbreitung nichtchristlicher Lehren und Riten unterstützen? Oder sich für die Errichtung nicht-christlicher Kultstätten einsetzen? Oder die ihnen anvertrauten Räumlichkeiten für fremde Kulthandlungen zur Verfügung stellen und sogar christliche Symbole daraus entfernen, damit andere nicht „beleidigt“ werden?
Als kürzlich der italienische Ministerpräsident dazu aufrief, sich der „Überlegenheit“ unserer christlich-abendländischen Kultur bewußt zu sein, löste er damit einen Sturm der Entrüstung aus. Nicht verwunderlich. Bedenklich ist, wenn sich auch Christen dieser Kritik, also dem Götzendienst der politischen Korrektheit anschließen. Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob Berlusconis Wortmeldung opportun war, doch unabhängig davon wird man sich eine Frage gefallen lassen müssen: Wenn der vernünftige Mensch die eigene Kultur nicht für besser hält, besser zumindest in Summe und in wesentlichen Teilbereichen, welche Gründe hätte er dann, sie beizubehalten, statt sich einer besseren anzuschließen?
Den Fehlentwicklungen scheint eine Fehlinterpretation der christlichsten aller Gebote - Nächstenliebe und Feindesliebe - zugrunde zu liegen, was sich auch bei den Bemühungen um Ökumene bemerkbar macht: Erfreulicherweise gab es in den letzten Jahrzehnten Fortschritte in der Wiederannäherung von Spaltprodukten christlicher Schismen, aber wieso sind bei ökumenischen Veranstaltungen zunehmend Juden und in jüngster Zeit auch Muslime, Buddhisten etc. mit von der Partie? Der Andersgläubige ist als Person zu respektieren, und natürlich dürfen andernorts stattfindende Christen- verfolgungen kein Anlaß für Vergeltung sein, doch was soll die pseudoökumenische Anbiederung? Günstigstenfalls entsteht der Eindruck, daß „Pfaffen“ alle unter derselben Decke stecken und daß Religion ohnehin egal ist. Schlimmstenfalls wird aus lauter Rücksicht auf Nächste und Feinde das Christentum verspielt, denn andere halten sich nicht an die Spielregeln.
Wohlgemeinte und wohlverstandene religiöse Vorschriften haben einen weltlichen Nutzen, selbst wenn dieser nicht immer augenfällig ist. Die Logik der Nächstenliebe ist jedoch bestechend einfach: Wenn sich jeder um seine Nächsten - um die Menschen im unmittelbaren Wirkungskreis - kümmert, braucht sich keiner um die Übernächsten zu kümmern. Nächstenliebe kommt außerdem zurück - eine Sozialversicherung ohne Bürokratie. Und das System ist tolerant, denn nicht jeder muß das Gebot befolgen, und nicht jeder muß alle Nächsten einschließen. Es genügt, daß ausreichend viele ihre Pflicht tun. (Wie bei jedem organischen System kommt es erst zum Kollaps, wenn Parasiten eine Sperrminorität erlangen.)
Ähnlich mit der Feindesliebe und mit der „anderen Backe“: Es geht darum, dem Feind beim Abbau der Feindseligkeit zu helfen, nicht seine Macht zu vergrößern. Und die andere Backe, die es hinzuhalten gilt, muß die eigene sein, nicht die eines Dritten. (Wer sich für andere entschuldigt, sollte bedenken, daß er sie damit einer Schuld bezichtigt!) Es ist natürlich bequemer, sich um Fernstehende zu kümmern, möglichst per Spendenkonto, statt um die unmittelbare Umgebung. Und es ist bequemer, vor Konflikten die Augen zu verschließen. Aber die höchste Stufe christlicher Nächstenliebe kann doch nicht im Aufgeben des Christentums bestehen! Ein Christ, der Wehrhaftigkeit ablehnt, lehnt Wahrhaftigkeit ab.
Es wäre töricht von Christen und Muslimen, sich angesichts jüngster Ereignisse instrumentalisieren und in weltweite Konfrontation hetzen zu lassen, denn die heutigen Konflikte sind nur vordergründig religiöser Natur. (So wie etwa auch in Irland die Religion bloß ein sekundäres Identifikationsmerkmal darstellt, während primär ein Konflikt zwischen der angestammten Bevölkerung und den Nachfahren britischer Invasoren vorliegt.) Ebenso töricht wäre es allerdings von den Christen, historische Konflikte sowie Grundsatzfragen der Missionierung aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Denn obgleich die geistige Zersetzung des Abendlandes von ganz anderen Kräften ausgeht, ist der Islam - wegen des Bevölkerungsdrucks - die quantitativ stärkste Bedrohung.
Daß der Islam im 7. Jahrhundert die vollständig christianisierten Länder des großsyrischen Raumes und Nordafrikas überrennen konnte, lag daran, daß die Byzantiner dort als Fremdherrschaft verhaßt waren und daß die Eroberer den Einwohnern volkstumsmäßig näherstanden. Die Islamisierung selber erfolgte nur allmählich und mit vorwiegend friedlichen Mitteln. Neben anderen Schikanen waren dies eine den Christen auferlegte Wehrersatzsteuer (nach Einführung von Söldnerheeren de facto eine Religionssteuer) sowie die Ehegesetze: Der Muslim darf Christinnen heiraten, deren Kinder muslimisch erzogen werden müssen, die Muslimin aber darf nie einen Christen heiraten. Dies gilt bis heute.
Das arabische Vordringen über die Straße von Gibraltar begründete auf der iberischen Halbinsel eine jahrhundertelange Fremdherrschaft, die auch als solche empfunden wurde. Die Rückeroberung (reconquista) bedurfte daher nicht der religiösen Rechtfertigung, wenngleich diese sehr nützlich war. Der Abfall vom Christentum während der Besatzung hielt sich in Grenzen: Ähnlich wie später am Balkan traten einige Feudalherren zum Islam über, um sich so der Enteignung zu entziehen, und es gab auch einen kulturellen Opportunismus, denn die unbestrittene Leistung des frühen Islam bestand ja darin, antikes Wissen und alte Techniken (beispielsweise Bewässerung) wiederzubeleben.
Nach 1492 kam es zu den heute vielgescholtenen Vertreibungen. Doch die politisch Korrekten sollten lieber ihre eigene Terminologie richtig anwenden: Da ging es nämlich um die Behandlung von Invasoren (Araber und Berber) und Kollaborateuren mit einer fremden Besatzungsmacht (Juden und Nachfahren abtrünniger Christen). Und diese wurden vor eine erstaunlich humane Alternative gestellt: Laßt euch taufen - also werdet wie wir - oder geht! Und viele müssen ersteres gewählt haben, wie sich heute an Physiognomien und Personennamen feststellen läßt.
Die Warmzeit um die erste Jahrtausendwende - in England gab es Weingärten! - bescherte Europa ein Bevölkerungswachstum und damit einen Überschuß an unterbeschäftigten Jungrittern. Das ist der wahre Hintergrund der Kreuzzugsbewegung, die nicht nur auf unchristlichem Gedankengut fußt (die Fixierung auf „biblische“ Örtlichkeiten und Reliquien ist durchaus heidnisch), sondern auch wesentlich zum Untergang des Ostchristentums beitrug. Wenn aber jetzt das von Präsident Bush verwendete Wort „crusade“ Emotionen erweckt, geschieht dies aus doppeltem Unwissen: Einerseits hat „crusade“ für die meisten Amerikaner nur mehr die übertragende Bedeutung von Feldzug und wird mangels entsprechender Bildung kaum mit den Kreuzzügen, geschweige denn mit der Wortwurzel „crux“ in Verbindung gebracht. Andererseits weiß die islamische Welt nicht, daß es solch westliches Unwissen gibt, denn ihr ist wegen der (arabischen) Übersetzung die Verbindung mit „Kreuz“ und den historischen Ereignissen stets gegen- wärtig.
Was das Vordringen des Islam über den Balkan betrifft, so läßt sich - in sicherer zeitlicher und räumlicher Entfernung - zwischen den Machtgelüsten osmanischer Sultane, der Raubgier ihrer Soldateska und den Praktiken des Islam unterscheiden. Von den unmittelbar Betroffenen war solche Objektivität aber nicht zu erwarten. Dementsprechend hat der jahrhundertelange Abwehrkampf speziell im katholisch geprägten Österreich seine Spuren hinterlassen. Wien war zweimal von den Türken belagert (1529 und 1683), und türkische Plünderer drangen bis tief in die Alpentäler vor. Daß jetzt gelegentlich von der dritten Türkenbelagerung geredet wird, sollte nicht erstaunen, denn zugewanderte Muslime haben in Österreich die Protestanten längst vom zweiten Rang verdrängt. (Als türkische Hilfstruppen fungieren vor allem die Grünen. So etwa entblödeten sie sich nicht, die Umbenennung der Zentagasse in Wien zu verlangen, weil sich dort wohnende Türken gekränkt fühlen könnten. Bei Zenta - damaliges Südungarn - wurde 1697 durch einen Sieg der Kaiserlichen unter Prinz Eugen die Türkengefahr weitgehend gebannt. Aber davon haben heutige Gastarbeiter - und dank der Schulreformen auch die meisten Wiener - ohnehin nie gehört.) Der Vormarsch des Islam in Europa ist keineswegs auf Zuwanderung beschränkt: Es gibt die Konversion in Mischehen wegen der erwähnten Ehegesetze. Und in Gegenbewegung zum allgemeinen Hedonismus und zum Diskont-Wett- bewerb christlicher Kirchen haben nicht nur Sekten, sondern auch islamische Missionare ein Betätigungsfeld. Wo aber bleibt die christliche Mission? Man muß nicht unbedingt in Länder gehen, wo dies lebensgefährlich ist. (Obwohl Mission auch im antiken römischen Reich lebensgefährlich war.) Und man muß nicht unbedingt dorthin gehen, wo Mission gewachsene soziale Strukturen gefährdet oder „Imperialisten“ und „Ausbeutern“ den Weg ebnet. Doch was ist mit der Binnen-Mission? „Gehet hin und lehret alle Völker“, das schließt doch nicht aus, sich an alle Völker zu wenden, die herkommen!
Erfahrungsgemäß haben zugewanderte orientalische Christen keine Integrationsprobleme. Was hindert also die Kirchen daran, auch den „Ungläubigen“ christliche Integrationshilfe angedeihen zu lassen, sie aus dem Teufelskreis einer gespaltenen Loyalität zu befreien und sie am Ausbau der christlich-abendländischen Kultur zu beteiligen? Aktive christliche Binnen-Mission ist zugleich die Nagelprobe für eine „offene“ Gesellschaft - unter fairen Bedingungen, nicht wie anderswo. Und dann wird sich herausstellen, wer überlegen, wer ein Fanatiker und wer ein tolerantistischer Pharisäer ist.
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