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Aufklärung über die Aufklärung" nannte der bekannte Sozialphilosoph Ernst Topitsch (der ursprünglich Altphilologe und Historiker war) die philosophische Aufgabe unserer Zeit. Mit dem Buch Der Leib und die Seele. Von den vielen Wurzeln der menschlichen Vernunft hat Günter Zehm, mit der kritischen Feder des "Pankraz" im Lande wohlbekannt, seit 1992 Professor der Philosophie in Jena, eben diese Aufgabe angepackt im klaren Blick auf die geistige und kulturelle Lage der Deutschen und der Europäer, des "Westens" insgesamt. Die großen philosophischen Systeme des 17. Jahrhunderts, der Galilei, Descartes, Hobbes, Locke, Newton, Leibniz , hatten die Fülle der menschlichen Weltbezüge auf mathematische und apriorisch-logische Grundkalküle reduziert.
"Wirkliche Philosophen haben dieser Instrumentalisierung der Vernunft immer mißtraut", so jetzt Zehm und nicht nur er. Diese "ungenierte Reduzierung ihres Fachs" letztlich auf technische Weltveränderungen und "industrielle Hilfsdienste" feiert heute zwar nochmals Triumphe, wie die Euphorie über die Globalisierung und die imperiale Politik des Neuen Rom zwischen Atlantik und Pazifik zeigt. Die feineren Geister, etwa beginnend mit Nietzsche, spüren aber längst, daß hier eine ganze Epoche des Denkens an ihr Ende gerät, hat doch jener mathematisch-mechanische Reduktionismus in Sackgassen geführt und dazu, daß die Philosophie viele ihrer wichtigsten Themenfelder verlor zum Nachteil der Menschen und ihres wahrhaft "vernünftigen" Wirklichkeitsverständnisses: die Leiblichkeit insgesamt, die vielgestaltigen Formen der Liebe bis zur Gottesliebe und Religion, Hunger und Arbeit als leibgeistige Phänomene, Schönheit, Schönheitssinn und Ästhetik (man denke nur an die Häßlichkeit weiter Teile des zeitgenössischen Städtebaus, schließlich Heimat und Nation als Gegenpole zu Imperialismus und Multikulturalismus. Zehm entwirft hier ein ganzes Panorama alt-neuer Welt- und Menschenerkenntnis, das man als Wiederentdeckung eines gegründeteten Inbegriffs von Humanität den Zeitgenossen und vor allem der jungen Generation empfehlen möchte.
Einiges aus der Fülle von Zehms Problemen, Einsichten, Aperçus und Kritiken sei herausgegriffen. Da sind die Kapitel über die Formen der Liebe in ihrer geistkörperlichen Vielfalt und Polarität, der Mutter-, Eltern-, Kinderliebe bis zur Nächsten- und Vaterlandsliebe, von Platons pädagogischem Eros bis zur Gottesliebe des Hohen Mittelalters, aber auch zu Siegmund Freuds Libido-Theorie. Zehm entdeckt dieses weite Feld als wesentlichen Grund lebensnaher Vernunft neu und führt auch zu einer wohlbegründet- kritischen Distanz zum heutigen Fundamental-Feminismus.
Angesichts des Internationalismus, ob kommunistischer oder turbokapitalistischer Art, bekommt auch der Nationalstaat neue Relevanz als realistischen Rahmen für Sicherheit, Rechtsstaat, bürgerliche Mitwirkung und gemeinwohlorientierte Wirtschaft. Zu Recht betonten schon Herder und die Romantik gegenüber Adam Smiths flachem individualistischen Liberalismus, daß das Gemeinwesen eben mehr ist als eine "bloße Assekuranz, als eine merkantile Societät des wohlverstandenen Eigennutzes" (Adam Müller, Elemente der Staatskunst). Und auch der Engländer Edmund Burke sah im Staat etwas grundlegend anderes als "eine alltägliche Kaufmannsozietät, einen unbedeutenden Gemeinhandel mit Pfeffer und Kaffee, den man treibt, solange man Lust hat, und aufgibt, wenn man seinen Vorteil nicht mehr wahrnimmt"; es handle sich vielmehr um "eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben werden". Daß Nation und eigenes Volk freilich auch pervertiert werden können zu Ausschließlichkeit und Machtanspruch, ob in Hitlers Radikalnationalismus oder im angelsächsischen "god s own country", ist dem geschichtserfahrenen Autor ebenso bewußt wie er den Multikulturalismus als ein Wunschziel von Intellektuellen in Politik, Wirtschaft, Medien, "Kultur" sieht.
Günter Zehm beeindruckt nicht nur mit seiner stupenden Bildung und Belesenheit, sondern auch mit einer philosophischen Leidenschaft, mit der er (ohne ein glanzvoller Rhetor zu sein) seine Hörer und Leser in seinen Bann zu ziehen vermag. Hier beschwört einer in der Philosophie wieder die Schönheit des Lebens, des Menschen und des Denkens und läßt zugleich keine Zweifel daran, daß es in ihr um Leben und Tod geht, des einzelnen wie der Kulturen und Epochen.
Günter Zehm: "Der Leib und die Seele. Von den vielen Wurzeln der menschlichen Vernunft", Edition Antaios, Schnellroda 2004, broschiert, 276 Seiten, 25 Euro |
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