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Die Sonne stand an diesem Morgen im genau richtigen Winkel: Ihre Strahlen trafen auf das goldene Relief, das den Bogen über dem Eingang zu der ansonsten zunächst recht düster wirkenden Straße zierte und so seinem Namen "Der Lichtbringer" alle Ehre machte. Backstein, Backstein, der bevorzugte Baustoff des Nordens und Nordostens, soweit das Auge reichte. Wer aber meint, dieser aus Lehm gebrannte Werkstoff, den schon die Sumerer im 4. Jahrtausend v. Chr. kannten, würde dunkel und abweisend wirken, der sieht sich bei genauerem Hinsehen eines Besseren belehrt. Reliefs und kunstvoll zu Mustern gemauerte Steine beleben das Bild. Und wenn erst die Sonne darauf scheint, dann meint man, diese eben noch abweisend wirkenden Steine würden glühen und selbst auf Entfernung noch Wärme ausstrahlen.
Auslöser dieser Begeisterung für Backstein ist an diesem Tag die Bremer Böttcherstraße - Handwerks gasse und Kulturpassage in einem. 1902 hatte der Bremer Kaufmann und Kunstsammler Ludwig Roselius (er erfand den entkoffeinierten Kaffee und baute die Firma HAG auf) damit begonnen, das 600 Jahre alte Roselius-Haus zu sanieren. Nach und nach wurde schließlich die ganze kleine Straße, die gleich hinter dem mächtigen Dom am Markt liegt, mit verschönert. Roselius beauftragte das Architektenteam Eduard Scotland und Alfred Runge und den Bildhauer Bernhard Hoetger, dieser Straße ein unverwechselbares Erscheinungsbild zu geben. Es entstanden in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Haus des Glockenspiels (mit Glocken aus Meißner Porzellan, die zweimal am Tag erklingen), das HAG-Haus, das Haus St. Petrus, das Paula-Modersohn-Becker-Haus, das Haus Atlantis und unter Mitwirkung des Architekten Karl v. Weihe das Robinson-Crusoe-Haus (im Gedenken an den von Robert Louis Stevenson in die Literatur eingebrachten Schiffbrüchigen, dessen Vater ein Bremer gewesen sein soll!). Nachdem die Böttcherstraße im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört worden war, machte man sich mit Hilfe von großzügigen Spendern daran, das Gesamtkunstwerk bis 1954 wieder aufzubauen. Und so lassen sich heute Touristen aus aller Herren Länder einfangen von dem herben Charme norddeutscher Backstein-Architektur mit expressionistischen und Art-déco-Elementen.
Mit seinen Skulpturen schuf der Bildhauer Bernhard Hoetger (1874- 1949) ein nicht unwesentliches Gegengewicht zum historischen Stil dieser Häuser. Als einer der "eigenwilligsten und umstrittensten Künstler zwischen Jugendstil und Expressionismus" hat der Architekt und Maler mit dem Haus Atlantis und vor allem mit dem Paul-Modersohn-Becker-Haus Architekturgeschichte geschrieben. Gewidmet wurde das 1927 eröffnete Haus mit dem eigenwilligen Klinkerturm, mit den verwinkelten Ecken und einem nicht enden wollenden Treppenhaus, das in luftige Höhen führt, der jung verstorbenen Malerin Paula Modersohn-Becker (1876-1907), deren Bilder dort eine Heimstatt finden sollten und deren wichtigste Werke auch heute noch dort zu sehen sind.
Immer wieder aber öffnet sich das Haus auch für Ausstellungen mit Werken anderer Künstler, so war vor einiger Zeit dort eine Käthe-Kollwitz-Ausstellung zu sehen. Nun werden noch bis zum 8. Juni im Paula-Modersohn-Becker-Haus architek- tonische Visionen des Expressionismus gezeigt. Unter dem Titel "Bau einer neuen Welt" präsentieren die Kunstsammlungen Böttcherstraße und das Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung, Berlin, in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Abteilung Baukunst, Berlin, mehr als 120 Exponate - Modelle, Gemälde und Graphiken. (Der Katalog, erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, umfaßt 192 Seiten, mehr als 200 farbige Abb. und kostet 24 Euro. Enthalten sind erstmals Beiträge von nahezu allen namhaften Kennern der expressionistischen Architektur.) Begleitet wird die Ausstellung, die dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet ist (auch Pfingstmontag), von einem reichen Programm. So werden Bauten des Expressionismus in Bremen und Umgebung besucht. Am 24. Mai geht s um 15 Uhr unter anderem zu Hoetger-Bauten und zur berühmten "Käseglocke" in Worpswede, die Erwin Koenemann 1926 nach Plänen von Bruno Taut erbaute. Begleitet wird die Rundfahrt, zu der man sich telefonisch unter 04 21 / 3 36 50 77/66 anmelden muß, von Nils Aschenbeck, Vorsitzender des Werkbunds Nord.
"Bau einer neuen Welt"? - Was brachte Architekten im frühen 20. Jahrhundert auf die Idee, eine derartige Fülle von Visionen zu entwikkeln? Es waren die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, als alles in Trümmern lag, als die Auftragsbücher leer, die Köpfe jedoch voll waren mit Ideen, eine bessere Zukunft zu gestalten, Häuser zu entwerfen, die den Menschen wohltun sollten, die vielleicht auch ein wenig "verrückt" waren. In dieser Zeit des wirtschaftlichen Leerlaufs war es klar, daß kaum eine dieser Ideen je verwirklicht werden würde. Träumen aber wird erlaubt sein, losgelöst von allen Sachzwängen und jeglichem Zweckrationalismus ...
"Zu bauen gibt es heute fast nichts", schrieb der Königsberger Bruno Taut (1880-1938) im November 1919 in seinem ersten Brief an "Die Gläserne Kette", einen von ihm selbst ins Leben gerufenen Briefzirkel verschiedenster Architekten, der allerdings im Dezember 1920 bereits wieder eingestellt wurde. "... und wenn wir irgendwo doch bauen könnten", so Taut weiter, "tun wir es, um zu leben ... Ehrlich gesagt: es ist ganz gut, daß heute nicht ‚gebaut wird. So können die Dinge reifen, wir sammeln Kraft, und wenn es wieder beginnt, dann kennen wir unser Ziel ... Seien wir mit Bewußtsein ‚imaginäre Architekten !"..." Zu dem Zirkel, der seinen Namen von dem Dichter Alfred Brust aus Insterburg erhielt und der nicht zuletzt auch die Bedeutung der Glasarchitektur hervorheben sollte, gehörten so bekannte Baumeister wie Hans Scharoun, Walter Gropius, Hermann Finsterlin und die Brüder Hans und Wassili Luckhardt. Namen, denen man auch in der Ausstellung wieder begegnet.
Von Scharoun, der sich von 1915 bis 1925 am Wiederaufbau Ostdeutschlands beteiligte und später in Insterburg ein Büro hatte, sind aus dieser frühen Zeit verschiedene Aquarelle, darunter ein Selbstporträt, zu sehen. Der Entwurf für ein Kino, der vor Juni 1923 entstanden ist, erinnert heute sehr an die erst in den fünfziger Jahren errichtete Berliner Kongreßhalle. Wie überhaupt die visionären Architekten ihrer Zeit weit voraus waren, etwa Hugo Häring, der sich wie Scharoun am Wiederaufbau Ostdeutschlands beteiligte und von 1915 bis 1921 in Allenburg wirkte. Von ihm, der als herausragender Vertreter des organischen Bauens gilt, ist ebenfalls eine frühe Arbeit zu sehen: der Entwurf für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße aus dem Jahr 1922, in der Form ganz ähnlich auch der Entwurf Mies van der Rohes für das gleiche Hochhausprojekt, allerdings aus Glas. Auch dort ragt das Gebäude wie ein Schiff mit einem gewaltigen Bug dem Betrachter entgegen, ganz so wie das (übrigens in Backstein gebaute) Chilehaus in Hamburg von Fritz Höger, der ebenfalls mit Beispielen aus seinem Schaffen in Bremen vertreten ist.
Den "Wüsten der Häßlichkeit" eine naturähnliche Bebauung gegenüberstellen wollten andere Architekten. Bruno Taut gar sah ganze Gebirgszüge gekrönt von Häusern, während Wenzel Hablik schwebende Siedlungen im Weltraum errichten wollte. Visionen, von denen wir Heutigen gar nicht mehr so sehr weit entfernt sind. Von Bruder Max Taut (1884- 1967) ist eine aquarellierte Bleistiftzeichnung unter dem Titel "Blütenhaus" aus dem Jahr 1921 zu sehen. Die Kreuzbögen finden sich wieder in seiner einzigen verwirklichten expressiven Architekturvorstellung, im Grabmal Wissinger in Stahnsdorf bei Berlin. Ebenfalls verwirklicht wurde die Vision des Allensteiners Erich Mendelsohn (1887-1953). Sein Einsteinturm in Potsdam ist mit einem Gipsmodell (Replik des Originals) und verschiedenen Skizzen in der Bremer Ausstellung vertreten.
Neben dem Backstein, für den die Namen Hoetger, Höger und Poelzig stehen, ist es das Glas, das die Baumeister faszinierte. Beides ist ein natürlicher Baustoff, der bereits bei der Errichtung gotischer Kathedralen eine wesentliche Rolle spielte. Wie funkelnde Juwelen und ebenso geschickt plaziert und beleuchtet wirken die Glasbausteine, die Bruno Taut 1919 / 20 schuf, der Mann, der bereits 1914 auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln mit seinem Glashaus Aufsehen erregte. "Spargelkopf" nannte man die kristalline Kuppel, die einen Reklamepavillon der Glasindustrie krönte. Fotos von Innenansichten des 1922 abgebrochenen Kunstwerks zeugen von der Phantasie und der Kraft der Vision eines großen Architekten.
Hier Backstein als Bekenntnis zur nordischen Heimat, da Glaspaläste als Hoffnungszeichen einer neuen Welt. So zeigt die Ausstellung, die vom 16. Juli bis 15. September auch im Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung in Berlin zu sehen sein wird, vor allem auch die Gegensätze, die verschiedenen Facetten auf, unter denen Architekten in den Jahren zwischen 1910 und 1925 arbeiteten. Eigenwillig aber und voller Erfindungsgeist waren sie allemal, nicht zuletzt aber auch voll baulicher Ideen, die bis heute fruchtbar nachwirken.
Erich Mendelsohn: Entwurfskizze für den Einsteinturm 1920 /p> Bruno Taut: Glashaus (1914) Foto: Katalog
Hugo Häring: Entwurf für Ideenwettbewerb Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße, Berlin, Foto: Katalog
Max Taut: Blütenhaus (aquarellierte Bleistift- zeichnung, 1921; im Besitz der Akademie der Künste, Berlin) |
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