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Seit Estland seine Freiheit wieder gewonnen hat, ist Lennart Meri schon mehrmals in Deutschland gewesen Anfang November jedoch zum erstenmal zu einem offiziellen Staatsbesuch. Der Präsident der nördlichsten Baltenrepublik dürfte diesen Termin kaum zufällig gewählt haben nur wenige Wochen vor dem für die Osterweiterung so wichtigen EU-Reformgipfel in Nizza.
Meri kam auch diesmal als Freund, aber in allen Reden mischte sich doch unüberhörbar in die Freundschaftsbekundungen und Beschwörungen der historischen Verbundenheit auch Enttäuschung, fast Bitterkeit. Meri: "Estland ist 800 Jahre lang Teil des deutschen Kulturraumes gewesen. Die estnische Hauptstadt Tallinn, auf deutsch Reval, gehörte wie unsere Städte Dorpat, Pernau und Fellin zur Hanse. Bei uns galt lübisches Recht." Estland sei die nördlichste Provinz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen. "Unsere ersten Bücher und Zeitungen wurden in gotischer Schrift in Deutschland gedruckt. Die Philosophie des nationalen Erwachens kam durch die deutschen Pastoren nach Estland, die den Text ihrer Predigt in Deutsch und Estnisch vorlegen mußten, um eine Pastorenstelle zu bekommen ... Das erste Schillerdenkmal in der Welt wurde 1813 nicht in Deutschland, sondern in Estland errichtet."
"Nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit haben wir Estland zu einem Rechtsstaat mit einer europäischen Gesetzgebung gemacht, der liberaler ist als Deutschland, und dieser Staat hat Vertrauen, Anerkennung und Bewunderung gefunden. Um so bitterer ist es für mich, feststellen zu müssen, daß die deutschen Direktinvestitionen in die estnische Wirtschaft nur drei Prozent des gesamten nach Estland investierten Kapitals ausmachen", sagte Meri beim Empfang von Bundespräsident Rau.
Esten und Letten hatten große Hoffnungen in Deutschland gesetzt nicht nur wegen der gemeinsamen Kulturgeschichte: Sie glaubten, auch Anspruch auf eine gewisse Wiedergutmachung dafür zu haben, daß sie durch den Hitler-Stalin-Pakt für ein Menschenalter der menschenverachtenden sowjetrussischen Fremdherrschaft überantwortet worden waren. Die Regierung Kohl war denn auch stets darum bemüht, als Anwalt der baltischen Völker innerhalb der westlichen Staatenwelt zu erscheinen für die Öffnung der Türen zu EU und Nato und für ein Engagement der deutschen Wirtschaft beim Wiederaufbau der baltischen Staaten. Die Wirklichkeit sah und sieht anders aus.
Zwar leistet die Bundeswehr im Auftrag der Nato nach wie vor Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe für die estnischen Streitkräfte, haben sich einige wenige mittelständische Unternehmen in Estland niedergelassen, pflegen ein paar deutsche Kommunen fruchtbare Partnerschaftsbeziehungen zu estnischen Gemeinden, engagieren sich evangelische Kirchen und deutsch-baltische Familien privat in Estland. Doch das regierungsamtliche Bonn blickte nicht nach Reval und Riga, sondern nach Moskau. Und das regierungsamtliche Berlin Schröders verhält sich trotz schön klingender Kanzlerworte nicht anders.
Die deutsche Baltikumpolitik, die sich offenkundig von der Überlegung leiten läßt, daß gute Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland die beste Voraussetzung dafür seien, daß es den baltischen Staaten gutgehe, ist nach Auffassung estnischer Politiker im Denkansatz gefährlich nahe einer neuen Form der unsäglichen Hitler-Stalin-Pakt-Politik von 1939.
Die deutschen Regierungen der letzten Jahre ermunterten und ermuntern noch immer die deutsche Wirtschaft, vor allem in das korrupte, marode und meist schuldentilgungsunfähige Riesenreich zu investieren, kaum aber in das zwar kleine, aber rechtsstaatlich verfaßte und eindeutig marktwirtschaftlich nach Westen orientierte Estland mit seinen höchstqualifizierten Arbeitskräften. Die Esten vermuten zudem, daß Schröders besonderes Wohlwollen auf Polen ruht, obzwar zwischen Deutschland und seinem unmittelbaren östlichen Nachbarn ungelöste Menschenrechtsprobleme und zwischen Brüssel und Warschau schwerste ökonomische Probleme stehen man denke nur an die polnische Landwirtschaft.
Die Esten befürchten nicht ohne Grund, daß Berlin zuerst eine Aufnahme Polens in die EU anstrebt und andere Staaten, die früher als Polen beitrittsfähig werden dürften, auf Polen warten sollen. Schröders Sommerbesuch im Baltikum hat diese Befürchtungen keineswegs zerstreut. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Meri in allen Reden, die er bei seinem Staatsbesuch gehalten hat, solchen Tendenzen eine klare Absage erteilt und gefordert hat, daß allein die Beitrittsfähigkeit über die Aufnahme in die Union entscheiden darf:
"Wir erwarten von Deutschland und von anderen bisherigen Mitgliedern die Bereitschaft, die Kandidaten entsprechend dem erreichten Stand der Vorbereitung auch wirklich aufzunehmen ... Wenn die Erweiterung erfolgreich sein will, muß und kann sie nur nach dem individuellen Prinzip durchgeführt werden: "Wer fertig ist, kann rein." Deutschland und die anderen Mitglieder haben versichert, daß sie bis Ende 2002 die Türen der Europäischen Union öffnen wollen." Estland sei davon überzeugt, bis dahin alle Aufnahmekriterien erfüllt zu haben.
Und in der Tat, die Bilanz der bisherigen Bemühungen ist eindrucksvoll: Von den 30 Aufnahmekriterien, die Brüssel aufgestellt hat, konnte Estland inzwischen die Hälfte erfüllen. Es ist zudem der einzige Beitrittskandidat, der bei den Beitrittsverhandlungen die Kapitel Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie Freier Kapitalverkehr abschließen konnte und EU-Bürgern keinerlei Einschränkungen beim Erwerb von Grundstücken macht.
Brüssel bescheinigt Estland, über "eine funktionierende Marktwirtschaft zu verfügen, die in der Lage sein dürfte, sich in naher Zukunft dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union gewachsen zu zeigen". Damit liegt Estland schon heute vor den einstigen Spitzenreitern Tschechei und Slowenien. Kein sogenannter Reformstaat hat höhere Zuwachsraten seiner Wirtschaft aufzuweisen, und bei den Auslandsinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung rangiert Estland (trotz beschämender deutscher Abstinenz) auf Platz 2.
Was die Kommunikations- und Informationstechnik betrifft, zählt Estland sogar zur Spitzengruppe in der Welt. Zum Beispiel entwerfen estnische Ingenieure und IT-Techniker die Mobilfunknetze für Brasilien und die Tschechei, ist die Mobilfunkdichte größer als in Deutschland, hat Estland das 1999 gestartete EU-Programm "e-Europa-Informationsgesellschaft für alle", das in allen EU-Staaten bis 2001 verwirklicht werden soll, bereits erfüllt (Zugang aller Schulen zum Internet, Einrichtung öffentlicher Zentren für den Zugang zu Internet und Multimedia), beginnt demnächst die infotechnologische Betreuung des Handelsregisters in Schleswig-Holstein durch estnische Techniker und mit estnischer Technik.
"Alle diese Tatsachen", so Meri vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag in Berlin, "sollten verdeutlichen, daß Estland nicht nur der richtige Ort zum Investieren ist, sondern auch ein Markt, der auf deutsche Erzeugnisse wartet."
Ob in Berlin, in Stuttgart oder in Wismar ob vor Wirtschaftskapitänen oder Politikern: Meri erntete überall weit mehr als nur freundlichen Applaus auch, als er in seiner klaren Sprache sagte, daß Estland zum Prüfstein für Deutschland und Europa geworden ist, ob die einst gegebene Zusage der Öffnung zu EU und Nato ehrlich gemeint war, ob Deutschland und Europa zu ihrem Wort stehen.
Der estnische Staatspräsident ist Realist genug, um zu wissen, daß Beifallsbekundungen nur angenehme Augenblickserfahrungen sind, die nur dann ihren Wert haben, wenn sie in Taten münden.
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