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Frankreichs Staatsschiff fährt schon seit einigen Monaten durch stürmisches Gewässer, und niemand kann sagen, wohin die Reise führt. Ohne bleibende Schäden jedenfalls wird weder das Land noch die Regierung den Ausweg finden. Angeblich ist die Lockerung des Kündigungsschutzes für die ersten zwei Jahre bei Berufseinsteigern unter 26 Jahren in einem von der Parlamentsmehrheit verabschiedeten Muster-Einstellungsvertrag (Contrat Première Embauche / CPE) der Stein des Anstoßes.
Zugegeben, die Regierung hätte vielleicht kein Sondergesetz für die Jugend machen sollen, aber die jungen Leute haben schließlich größere Probleme auf dem Arbeitsmarkt als die älteren Arbeitnehmer . Immerhin ist dieses Vertragsmodell und der schon bestehende CNE (Contrat Nouvelle Embauche) für alle Alterstufen arbeitnehmerfreundlicher als die in Deutschland in Unternehmen mit unter zehn Mitarbeitern zulässige ungeschützte Kündigung, die ohne Zeiteinschränkung gilt und jetzt auf Unternehmen mit bis zu 20 Mitarbeitern ausgedehnt werden soll.
In Frankreich geht es ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidialwahlen vor allem um die Macht im Staate, auch wenn auf den Transparenten vom letzten Sonnabend, als eine halbe Million auf den Straßen marschierte (die Organisatoren hatten 1,5 Millionen Teilnehmer erwartet), immer noch die bedingungslose Rücknahme der CPE gefordert wurde. Dies käme nämlich der Abdankung des Premierministers gleich und wäre damit politisch.
Nach den gewalttätigen Unruhen in den Vororten vom letzten November haben sich diesen Monat die radikalisierten Gewerkschaften und die von Agitatoren angestachelten Studenten beziehungsweise Gymnasiasten insbesondere in Paris, Toulouse und Rennes, mit Abstrichen auch in Lyon und Marseille der Stadtzentren bemächtigt. Sie haben für die lernwilligen Kommilitonen drei Viertel der 80 Universitäten unzugänglich gemacht. Damit machte nach nur einigen Monaten der Ruhe ein neuer Aufstand der konservativ-liberalen Regierung und dem staatstreuen Normalbürger klar, daß sie auf einem Pulverfaß sitzen.
In einem autoritären Staat wäre es kein Problem, einen studentischen Aufruhr dieser Art zu brechen, aber Frankreich ist eine Demokratie, ja die Erfinderin der Menschenrechte. Innenminister Nicolas Sarkozy, Spitzname "Sarko", hat bisher in diesen roten März-Unruhen wie auch im grünen November-Aufstand - grün, weil überwiegend mohammedanisch - mit Fingerspitzengefühl und Intelligenz verhindert, daß jemand unter den Demonstranten und Randalierern zu Tode kam und von den anderen als Märtyrer instrumentalisiert wird, wie es im Dezember 1986 bei den Massendemonstrationen gegen die Universitätsreform von Alain Devaquet geschehen ist. Der Tote, Malik Oussedine, war schwerkrank gewesen (er war Dialyse-Patient), aber das Drama führte zur Rücknahme dieser sinnvollen Reform, die Frankreich bestimmt vorangebracht hätte. Bildungsminister Devaquet wurde vom liberalen Flügel der Regierung fallengelassen und mußte zurücktreten. Dieses Trauma spukt heute in ministerialen Köpfen noch immer umher und läßt einiges verständlich erscheinen.
Innenminister Nicolas Sarkozy, den der Premierminister Dominique de Villepin einige Tage im Regen hatte stehen lassen, als die "banlieues" im Herbst brannten, übte sich diesmal sofort in Solidarität mit seinem Rivalen, vermied jede Kritik und eilte sofort von einer Reise in der französischen Karibik nach Paris zurück. Die Lage ist so ernst, daß jeder Zwist Gift wäre. Es ist seiner offensichtlich gut ausgebildeten und - trotz der vielen Verletzten in ihren Reihen - gut motivierten Polizei gelungen, die Spitze der Unruhestifter in Schach zu halten und zu verhindern, daß Zustände wie im Mai 1968 sich wiederholen.
Sarkozy, der neben seinem Regierungsamt Vorsitzender der Regierungspartei UMP ist, könnte die letzte Rettung der konservativ-liberalen Mehrheit sein, falls Villepin doch noch zurücktreten muß. Sollten nämlich Staatspräsident Chirac und seine Mannschaft das Handtuch werfen und den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei machen, würde die Linke in der heutigen Aufgeregtheit haushoch siegen. Dabei haben die Sozialisten (PS) und die Kommunisten (PC) keine Patentlösung für die Wirtschafts- und Politikkrise. Das Land würde ganz im Gegenteil unter deren Kuratel noch schneller in den Abgrund abrutschen.
Der März 2006 hat nichts mit dem Mai 1968 zu tun. 1968 war eine Revolte von verwöhnten Kindern, die sich in der Konsumgesellschaft und in der Demokratie langweilten und von einem romantischen Totalitarismus träumten, wie es ihn nur in den Köpfen von spätpubertären und ignoranten Jungs und Mädchen geben kann. Im Gegensatz dazu geht es den heutigen Aufrührern um mehr Geld, um sichere Arbeitsplätze "vom Bafög bis zur Rente", um eine eigenständige Wohnung weit weg von den Eltern, und um ein neues Handy, später ein schickes Auto.
Es geht ihnen auch darum zu zeigen, daß es sie gibt. Sie vegetieren in der Massengesellschaft von Universitäten, die nichts anderes als Wartesäle vor der sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit (20,5 Prozent im Durchschnitt, über 40 Prozent in Problemvierteln) sind und Scheinbildung für geistig-kulturell minderbemittelte Intelligenzler vermitteln, seitdem das Abitur beinahe jedem geschenkt wird und keine Hürde mehr ist. Dieser Jugend geht es bloß um ihre Existenz. Die künftigen Eliten des Landes werden in Privatschulen, Privatuniversitäten und Elitehochschulen ausgebildet. Sie gehen nicht auf die Straße.
Einige Traditionslinke unter den Jugendlichen träumen freilich von einem neuen 1968 und beneiden im Nachhinein ihre Eltern um dieses historische Erlebnis in glücklicheren Zeiten. Die Erstürmung der Sorbonne hat in ihren Köpfen die Symbolik übernommen, die die Erstürmung der Bastille 1789 in französischen Schulbüchern hatte. Aber die Regierung hat die Bedeutung dieses altehrwürdigen Uni-Gebäudes der Pariser Mitte erkannt und läßt sich kein zweites Mal überraschen, nachdem es am 12. März einigen Chaoten gelungen war, dort einzudringen und beträchtliche Sachschäden anzurichten. Der Staatsapparat verfügt noch über einige Mittel und der Staatspräsident könnte eventuell den Ausnahmezustand laut Artikel 16 der Verfassung verkünden. Es gibt einige Möglichkeiten, die in Deutschland noch nicht gelten, so zum Beispiel eine Intervention der Armee im Inneren. Die Gendarmerie ist in Frankreich ohnehin ein Armeekorps.
Die Regierung gibt nicht nach. Man sollte sich aber nicht täuschen. Wenn solche Aufstände ausbrechen, so liegt es daran, daß die Staatsmacht geschwächt ist. Der Staatspräsident Jacques Chirac und alle, die von ihm abhängen, angefangen mit Villepin, haben sich von dem gescheiterten Europa-Referendum vom Mai 2005 nie richtig erholt. Außerdem präsentiert die Linke Chirac jetzt, ein Jahr vor der Präsidentenwahl (im Mai 2007) die Rechung dafür, daß sie bei seiner Wiederwahl vor vier Jahren zu seinem Sieg mit 80 Prozent der Stimmen beigetragen hat, um den rechtsextremen Kandidaten Le Pen zu verhindern.
Immer wieder wurden die Studenten als Speerspitze beziehungsweise als Hemmschuh gegen Reformen der konservativ-liberalen Regierungen von den linken Parteien und Gewerkschaften mißbraucht. An den Studentendemonstrationen scheiterten 1984 und 1985 die Wirtschaftsreformen von Balladur und Juppé. Fast ebenso viele Studenten wie Gewerkschafter demonstrierten 2003 zur "Verteidigung der Renten" und 2004 zur "Verteidigung des öffentlichen Dienstes" sowie 2005 gegen die Abiturreform von Minister Fillon. Jetzt protestieren sie auch "für die Aufnahme illegaler Zuwanderer" und "gegen die Privatisierung des staatlichen Gasunternehmens".
So kommt es, daß kein Rezept gegen die Jugendarbeitslosigkeit und den Bildungsabstieg, für die Modernisierung der Gesellschaft zustande kommt. So werden die Studenten künstlich im Zustand eines geistigen Proletariats gehalten, das Schlagworte gierig aufsaugt und dem Herdentrieb folgt. Jugend auf den Straßen macht immer einen starken Eindruck.
Die Bevölerung vor den Fernsehern empfindet Sympathie für deren Forderungen. Innerhalb einer Woche stieg vor dem Hintergrund der Demonstrationen der Anteil derjenigen Bürger, die sie unterstützten von 55 Prozent auf 68 Prozent. Im Januar meinten 52 Prozent der Franzosen, daß der CPE "die Jugendarbeitslosigkeit reduzieren würde". Anfang März dachten dagegen 66 Prozent, daß er "die Unsicherheit ("la précarité") des Arbeitsmarktes erhöhen würde". Indessen sackten die Popularitätswerte des Premiers de Villepin blitzartig ab.
Wer die Studentenrevolte der 60er Jahre erlebt hat, weiß, daß Vollversammlungen Akklamations- und Deklamationsveranstaltungen sind, daß dort kritische Stimmen niedergeschrieen werden und daß sie das Ziel verfolgen, die Anwesenden aufzuhetzen. Den unbescholtenen Erstsemestlern werden von den Kadern niedrige Aufgaben anvertraut, wie Flugblätter verteilen, in bestreikten Gebäuden Wache halten. Diese Scheinbeschäftigungen binden sie an die "Bewegung".
Hinzukommt, daß die Sozialistische Partei, die Kommunisten und die Anarchisten in der französischen Studentenschaft dauerhaft Wurzeln geschlagen haben.
Das zeigen rote und schwarze Fahnen, Koordinationskomitees wie "Stop-CPE" sowie die Gesinnung der Anführer der Studentengewerkschaften UNEF (Union des Etudiants de France), UNEF-ID, Alternatifs, Altermondialisten, "Junge Kommunistische Wiedergeburt JRCF", die "Kuba gegen den amerikanischen Imperialismus verteidigt", und die anarcho-syndikalistische CNT. Nicht anders ist es mit der Gymnasiastenorganisation UNL (Union Nationale Lycéenne).
Im Dezember 1986 war Philippe Darriulat und Isabelle Thomas von der UNEF-ID die Anführer der Demonstrationen. Ersterer, ein Trotzkist, gründete unter den Fittichen von Premierminister Lionel Jospin den Konvergenz-Club, eine Untergruppierung der PS, und die Agitprop-Expertin Lambert wurde 1989 Jugendreferentin von François Mitterrand. Damals war der Trotzkist Jean-Christophe Cambadélis Vorsitzender der UNEF. Er steht heute dem ehemaligen sozialistischen Finanzminister Dominique Strauss-Kahn nahe.
De Villepin erklärte, daß "die wahre Lebensunsicherheit bei den 20 Prozent arbeitslosen Jugendlichen (gegen nur acht Prozent in Dänemark, wo die Arbeitsflexibilität total ist) liegt".
Er sagte, daß er "die Ängste und Bedenken begreift", und streckte die Hand aus. Aber er bekam gleich ein "Njet" der Linksparteien und der Gewerkschaften, die jetzt mit Generalstreik drohen.
Sicherlich kann die fristlose Kündigungsmöglichkeit im CPE in einigen Branchen von zwei auf ein Jahr verkürzt werden.
Die Berufseinsteiger müssen auch gegen die Launen eines Arbeitgebers geschützt werden, der vielleicht lieber seine Nichte oder den Sohn seines Freundes einstellt. Darüber kann man diskutieren.
Aber was die Opposition jetzt will ist etwas ganz anderes, und zwar eine andere Republik.
Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich liegt bei 20 Prozent
Gewerkschaften benutzen Studenten als Hemmschuh
"Wir wollen uns jetzt nicht mehr wie Zitronen auspressen lassen": Französische Studenten demonstrierten teils friedlich, teils randalierend gegen das neues CPE-Gesetz. |
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