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Estland: Im Würgegriff der Mafia

 
     
 
Nur wenige Jahre ist es her, da besaß die estnische Fluglinie „Estonian Air“ einen ausgezeichneten Ruf. Reisende rühmten ihre Zuverlässigkeit und den vorbildlichen Service.

Doch als der Verfasser in diesem Sommer am Flughafen Reval (Tallinn) Bekannte abholte, die aus Frankfurt gekommen waren, bekam er von ihnen ganz andere Töne zu hören: „Alle Ansagen an Bord waren nur auf estnisch und russisch. Die Stewardessen machten einen unhöflichen bis arroganten Eindruck und verstanden kein Wort Deutsch oder wollten es nicht verstehen. Zu allem Überfluß
gab es eine Verspätung, weil einige russische Proleten ihr Gepäck an der Kontrolle vorbeimogeln wollten.“ So schimpften sie.

In einem späteren Gespräch mit estnischen Freunden über das Erlebnis zuckten diese nur resignierend mit den Achseln: „Seit die Fluglinie privatisiert wurde, gehört sie der russischen Mafia.“

Ein Gewährsmann weiß Näheres zu berichten: „Nach der Übernahme durch die Russen wollten diese an Bord der Flugzeuge der Estonian Airline auch die estnische Sprache abschaffen und sich mit den Passagieren nur noch auf russisch verständigen. Aber das hat man ihnen Gott sei Dank doch noch ausgetrieben!“

Andere Esten erzählen unabhängig voneinander, daß überall die besten Grundstücke von Angehörigen der russischen Mafia aufgekauft und mit geschmacklosen protzigen Villen verschandelt würden - vorzugsweise an der Küste und auf den idyllischen Inseln wie Ösel (Saaremaa) oder Dagö (Hiiumaa).

Die Schlußfolgerungen der Menschen klingen alarmierend: „Wenn das so weitergeht, brauchen die Russen gar nicht mehr einzumarschieren, um uns erneut unserer Freiheit zu berauben“, sagt der eine. Und ein anderer klagt: „Fehlt nur noch, daß sie auch noch die Medien in ihren Besitz bringen, dann ist es bald mit unserer Freiheit und Unabhängigkeit vorbei.“

Tatsache ist, daß Estland früher in erster Linie als Durchgangsland für den illegalen Handel mit Waffen, Metallen und Narkotika genutzt wurde. Heute hat sich die Lage geändert: Das ökonomisch erheblich interessanter gewordene Land wird zunehmend als Gebiet genutzt, in dem auf kriminelle Weise aufgetriebenes Geld in Immobilien oder beim Kauf von Unternehmen und Banken „legal“ angelegt wird. Diese Entwicklung bestätigte auch der Generaldirektor des estnischen Staatsschutzes, Jüri Pihl.

Außerdem warnte Pihl schon vor Jahren, daß die drei baltischen Republiken zu einer Art „Transitknoten beim Rauschgifthandel“ geworden seien, an dem sich die Wege aus der GUS, Arabien und sogar dem berüchtigten asiatischen Goldenen Dreieck kreuzten und in die skandinavischen und mittel- bzw. westeuropäischen Länder weiterführten.

Der estnische Staatsschutz legt Wert auf die Feststellung, daß die grassierende Kriminalität nicht in Estland „geboren“ sei, sondern vom Territorium der Russischen Föderation herüberschwappe.

Woher denn das Mafia-Geld stamme, will ich unterwegs von meinen estnischen Gesprächspartnern wissen und werde von ihnen auf den Rauschgifthandel und Prostitution als einträglichste Quellen hingewiesen. Darüber hinaus natürlich auf den Autodiebstahl. Schon als ich vor ein paar Jahren auf dem Revaler Flughaffen ein Auto hatte mieten wollen, war ich entsetzt angesichts der astronomischen Preise, die, wie es hieß, wegen des „Diebstahlrisikos“ verlangt werden müßten.

In dieser Beziehung gibt es inzwischen eine Entlastung, freilich aus zweifelhaften Gründen, wenn man dem Volksmund Glauben schenkt. Die Autovermieter haben heute durchaus moderate Preise. Mutmaßlicher Hintergrund: die Mafia hat sich gegen Schutzgeldzahlungen verpflichtet, Mietwagen nicht mehr zu stehlen.

An der Beschaffungskriminalität durch Rauschgiftsüchtige ändert das allerdings nichts. Davon kann auch der Verfasser ein Lied singen, denn als er einmal nur für wenige Sekunden das Auto außer acht gelassen hatte, war flugs seine Aktentasche samt allen Reisedokumenten verschwunden.

Die estnische Polizei ist zwar ausgesprochen höflich und hilfsbereit, aber machtlos. Eine Hotelbesitzerin in Vösu an der Nordküste hatte zu diesem Thema eine eigene Geschichte bei der Hand. Widerfahren ist sie dem wohlhabenden Sohn einer Nachbarin, als er auf seinem Anhänger einen Auto-Scooter mitbrachte. Der sei dann samt Anhänger über Nacht verschwunden, erzählt sie.

Die Polizei habe dem Mann daraufhin bedeutet, er solle die Sache besser nicht weiter verfolgen, da „sehr einflußreiche Leute“ hinter dem Diebstahl steckten. - Daß die schlecht bezahlten Beamten selbst vielfach eingeschüchtert werden oder für Bestechungen zugänglich sind, will niemand so recht wahrhaben.

Derlei Erlebnisse erfährt man jedoch nur, wenn man die Landessprache beherrscht, und auch dann nur hinter vorgehaltener Hand. „Normale“ Touristen können nur selten hinter die schönen Kulissen der sich äußerlich rasant entwickelnden Baltenrepublik schauen.

Man ist im Gegenteil überwältigt von den positiven Eindrücken - egal, ob es sich um den ersten Besuch handelt oder Vergleichsmöglichkeiten zu früheren Aufenthalten bestehen.

Da sind die alten Hansestädte Reval, Pernau (Pärnu), Dorpat (Tartu), die zu einem beträchtlichen Teil ihr mittelalterliches Antlitz bewahrt haben, daneben die liebevoll restaurierten Rittergüter der deutschbaltischen Adelsfamilien und nicht zuletzt die weitgehend unberührte Landschaft, die solch eine Ruhe ausstrahlt, daß selbst antiautoritär verzogene Kinder aus Bundesdeutschland friedlich und still werden.

Und da sind die mit viel Fleiß instand gesetzten oder neuerrichteten Land- und Ferienhäuser, die sich wohlhabende Esten oder Investoren aus Finnland, Schweden und - seit kurzem - auch aus Deutschland hergerichtet haben.

Ein Arzt-Ehepaar aus Gotha, das über die Ukraine und die russische Ostseemetropole St. Petersburg eingereist war, brachte diese erfreulichen Wahrnehmungen für sich auf ein einfaches, aber sicher nicht ganz unwahres Fazit: „Endlich sind wir zurück in der Zivilisation!“

Man kann sich vorstellen, daß nicht nur die Grundstückskäufe russischer Mafiosi, sondern die ausländischer Interessenten ganz allgemein vielen Einheimischen problematisch erscheinen und oft als Verdrängungsprozeß wahrgenommen werden.

Für die Fremden sind die vergleichsweise niedrigen Preise einfach zu verklockend. Sie können zum Beispiel in einem vielbesuchten Badeort ein 1200 Quadratmeter großes Waldgrundstück samt einem (allerdings renovierungsbedürftigen) Sommerhaus für den Schnäppchenpreis von umgerechnet 9600 Euro erwerben. - Um sich das leisten zu können, braucht man nicht der russischen Mafia anzugehören.

Apropos Mafia: Wenn sich auch viele von deren zwielichtigen Geschäften ganz oder weitestgehend dem Blick der Öffentlichkeit entziehen, läßt sich für den aufmerksamen Beobachter dennoch manches erahnen.

So ist es unübersehbar, daß der Straßenverkauf von Ansichtskarten in der Haupstadt Reval fest in russischer Hand ist. Fast an jeder Ecke sieht man bildhübsche Mädchen, die einheitlich in rote T-Shirts gekleidet sind. Sie heißen Tanja, Nadja, Anastasia, Natalja oder Olga, sind höflich und beherrschen gleich mehrere Sprachen. Estinnen habe ich unter ihnen nicht angetroffen.

Das Ganze scheint zentral koordiniert zu sein und wirft offensichtlich eine Menge Geld ab. Dabei verlangen die Mädchen für eine Karte 8 Kronen (etwa 50 Cents), obwohl die gleichen im Postamt oder bei der Touristeninformation für 3,50 bis 5 Kronen erhältlich sind.

Doch viele der alljährlich mehr als eine Million Hauptstadt-Touristen wissen das nicht oder sind zu bequem für einen Umweg. Ihr Geld ist es, das den Mädchen eine lukrative Nebeneinnahme verschafft - und damit erst recht ihren wahrscheinlich dubiosen Hintermännern.

Eine unzweifelhaft erfreuliche Beobachtung ist dagegen, daß immer mehr deutsche Touristen das Land für sich entdecken. War es früher in der Regel nur die unzerstört gebliebene Altstadt von Reval, die magisch anzog, so gehören heutzutage auch die vielen Naturschönheiten zu den erklärten Zielen, ganz besonders jene entlang der Küstenlinie und im vielgestaltigen Süden.

Die Gäste aus Deutschland kommen mit Bussen, mit der Fähre, dem eigenen Auto oder in wachsender Zahl sogar mit dem Fahrrad. Alle sind sie des Lobes voll über Estland, seine Bewohner und den Umstand, daß westliche Hektik hier noch keinen Einzug gehalten hat. Das macht es dem Besucher leicht abzuschalten und in anderer Umgebung zu sich selbst zu finden.

Auch die russische Mafia stört normalweise nicht den Urlaubsgenuß. Ob das allerdings auf Dauer so bleiben wird, ist leider alles andere als sicher.

Werner Pfeiffer wurde 1929 in Werro (Vöru)/Estland geboren. Er spricht gut Estnisch und bereiste seine Heimat in diesem Sommer bereits zum siebten Mal seit Wiedergewinnung der Unabhängigkeit.
 
     
     
 
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