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Die alte Welt erschafft sich neu." Unter diesem Motto hat der Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust ein Buch herausgegeben, in dem verschiedene Autoren, zumeist Historiker und Journalisten, europäische Kulturwerte in Vergangenheit und Gegenwart analysieren. Je mehr die Technokraten in Brüssel unser Leben bestimmen, desto häufiger wird darüber nachgedacht, wie Europa zu definieren sei. Welche Zukunft hat die Europäische Union, wenn ihr demnächst zwölf weitere Länder beitreten?
Alle Autoren betonen die ungemeine Vielgestaltigkeit und Pluralität der europäischen Geschichte, aber auch ihren "Januskopf", der seit jeher Kreativität und Selbst-zerstörung gebar. Antike europäische Wurzeln erörtert Christian Meier, der die bemerkenswerte These vertritt, daß die EU nicht in griechischer Demokratie wurzele, sondern weit eher dem autokratisch regierten Rom der Kaiserzeit ähnelt.
Fälschlich preise man Karl den Großen als "Vater Europas", meint Johannes Fried, weil Karl den Begriff "Europa" gar nicht kannte. "Die Idee Europa schlummerte noch auf Jahrhunderte im Schoß der Zukunft". Gesamteuropäische Visionen hätten die Aufklärer entworfen, und erst nach 1945 sei die Einigung Europa als konkretes politisches Ziel formuliert worden. Möchte Fried dem Menetekel entgehen, daß von Karl dem Großen über Philipp II., Ludwig XIV. und Napoleon bis zum Zweiten Weltkrieg alle Versuche mißglückten, Europa unter einen Hut zu bringen? Die scholastische Frage, ab wann die Vorstellung "Europa" existierte, zielt am Kern der Dinge vorbei.
Glaubt man dem Theologen Richard Schröder, dann müßte Frieds These in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das katholisch/universale Mittelalter hält Schröder für weit "europäischer als das 19. und 20. Jahrhundert". Unerwähnt bleibt die Tatsache, daß schon im Frühmittelalter die Vorformen der späteren Nationalstaaten entstanden. Bereits das 10. Jahrhundert kannte beispielsweise ein "regnum teutonicum".
Ebenso unterliegt Hagen Schulze dem gleichen Irrtum wie der Historiker Helmut Kohl. "Nationalismus und Nationalstaaten" seien Produkte des 18. und 19. Jahrhunderts, behauptet Schulze. Die Annahme, daß 1789, ohne Vorgeschichte, gleichsam spontan, der nationalstaatliche Gedanke aufgetaucht sei, ist offenkundig unhistorisch. "Das Europäische an Europa sind seine Nationen", schrieb Hermann Heimpel, und dies gilt auch und gerade für das Mittelalter. (Hitlers "großgermanisches Reich" wiederum kann schwerlich als Nationalstaat gelten).
Nicht minder transportiert der Spiegel-Redakteur Bickerich Wunschideen der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Hanse sei die "EU" des 14. und 15. Jahrhunderts gewesen. Außerhalb Deutschlands sollte Bickerich derartige Thesen nicht zu laut vertreten, denn die Hanse kämpfte jahrhundertelang gegen nordische Länder erbittert um Handelsprivilegien, die mit "Europa" rein gar nichts zu tun hatten.
Wenigstens ist Dieter Wild beizupflichten, der feststellt, daß sich Napoleon I. zwar als "Europäer" bezeichnete, de facto jedoch französische Hegemonialinteressen vertrat.
Im zweiten Teil des Bandes widmen sich andere Autoren der heutigen EU und ihrer Zukunftsperspektive. Auch hier bleiben die Anhänger der neuen Romidee unter sich. "EU-Skeptiker" kommen nicht zu Wort. Die zentrale Frage, wie eine demokratisch regierte EU, der demnächst 27 Mitgliedstaaten angehören, eigentlich aussehen soll, bleibt unbeantwortet.
Jean-Claude Juncker, luxemburgischer Premierminister, betont seine Genugtuung darüber, daß der Nationalstaat weithin Kompetenzen verloren habe und "nur noch in wenigen Revieren exklusives Jagdrecht" genieße. Analog seien die Befugnisse des europäischen Parlaments angewachsen. Gestiegen ist eher die anonyme Dominanz der Bürokraten. Eine ehemalige EU-Praktikantin beschreibt eindrucksvoll die ineffektive Arbeit der Behörden in Brüssel: "Leerlauf hinter Glas". Innerhalb der 24 Generaldirektionen der EU, dem Kern der Macht, "herrscht permanenter Kriegszustand".
Manche Verfasser plaudern aus dem Nähkästchen. Etliche Länder akzeptieren die Brüsseler Hoheit nur deshalb, weil sie ökonomische Vorteile abschöpfen. Insbesondere gelte dies für die desaströsen Agrarsubventionen der Gemeinschaft. Deren Osterweiterung mache vielen Leuten Angst, weil die neuen Mitglieder wirtschaftlich zurückgeblieben seien. Daraus können gefährliche Schieflagen entstehen. Deutsch- land muß künftig weitere zwei Milliarden Euro pro Jahr in den Topf der EU werfen. "Das ist wirklich nicht zu viel", meint der EU-Kommissar Verheugen. Kein Wunder, denn er muß es nicht bezahlen.
Andererseits ist zu begrüßen, daß West- und Osteuropa eng zusammenarbeiten. Ob jedoch die Art und Weise, in der das geschieht, als der Weisheit letzter Schluß zu betrachten ist, bleibt vorerst die Frage. R. Helfert
Stefan Aust, Michael Klingenberg (Hg.), "Experiment Europa. Ein Kontinent macht Geschichte", Deutsche Verlagsanstalt, München 2003, 276 Seiten, 24,90 Euro |
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