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Wir sind Zeuge unglaublicher Umwälzungen. Jahrzehntelang hatten wir beim Ladenschluß um jede Minute gerungen. Pompöse Reden vom "Standort Deutschland" einerseits und dem "Ende unserer sozialen Errungenschaften" andererseits rankten sich um die Schließzeiten beim Aldi. Im In- und Ausland war der "Ladenschluß" zum Symbol der deutschen Verhältnisse geworden. Er war schon so etwas wie ein Stück Heimat, schien wie eine unsichtbare Motivtapete hinter jeder Talkshow auf. Nun sieht es so aus, als wollten die Parteien den guten alten Freund in die Löwengrube der "Länderkompetenzen" stoßen. Wir werden ihn vermissen.
Vermissen wie die Märchen von Donald Rumsfeld, die, obschon wie der Ladenschluß längst fester Bestandteil unserer Welt, zu Wochenbeginn einem plötzlichen Tod erlagen. Wie beiläufig eröffnete uns der US-Verteidigungsminister , daß die Hauptkriegsgründe der USA gegen den Irak samt und sonders Blödsinn waren. Weder habe Saddam Massenvernichtungswaffen gehabt noch irgendwelche düsteren Verbindungen zu Al Kaida unterhalten. So kurz vor dem Urnengang im November das Flunkern einzustellen, dürfte beim US-Wahlvolk nicht besonders gut ankommen. Aber die Amis haben im Unterschied zu uns ja bald die Möglichkeit, sich neue Landesväter zu wählen.
Besonders der Oppositionskandidat für den Vizepräsidenten, Edwards, dürfte im Herstellen eigener Wahrheiten sogar noch talentierter sein als Don Rumsfeld. Edwards ist nämlich Verbraucheranwalt. Das sind in den USA jene Leute, die öffentlich nachweisen, daß Raucher und Fettesser gar nicht wissen können, daß sie rauchen und Fett essen, wenn sie rauchen und Fett essen, weshalb sie Anspruch auf Milliardenentschädigung haben. So ein Mann läßt sich nicht wie ein Rumsfeld dermaßen in die Enge treiben, daß er kurz vor dem Zieleinlauf seine Mogeleien in den Medien beichten muß.
Die Wahrheit ist für die Politik eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle. Wenn sie in populistische Hände gerät, könnten diese sie unmodelliert ans Volk weiterreichen. Kluge Politik baut daher vor - die Europapolitik unserer Parteien ist eine der klügsten. Je näher wir dem entscheidenden Datum zum Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Dezember kommen, desto schärfer schält sich ein Meisterwerk der politischen Schliche heraus, dem kein Quertreiber mehr beikommen wird. Kleine Unebenheiten wurden schnell ausgebügelt. Erweiterungskommissar Verheugen hatte sich bekanntlich ein wenig zuweit aus dem Fenster gehängt, als er die Türken umturtelte, als seien sie praktisch schon aufgenommen. Das deckt sein "sehr kritischer" Bericht nun wieder zu. Ja, man macht sich tiefe Gedanken, lautet die Botschaft, die Aufnahmetauglichkeit werde ehrlich und offen geprüft, und zwar selbstverständlich "ergebnisoffen", was wiederum nicht heiße, daß das Ergebnis offen sei, da man den damals 27 Millionen Türken schließlich schon 1963 irgendetwas versprochen habe, was man den heute 72 Millionen Türken nicht vorenthalten dürfe.
Seit 1963 hangelt sich die Politik nun geschickt wie ein Pavian von Ast zu Ast, von einem Versprechen zum nächsten. So wird es bis 2013 oder 2015 weitergehen, dann kommt die Türkei rein. Ach, 2015! Das ist genauso solange hin, wie das Jahr 1993 her ist. Seinerzeit hat sich auch keiner Gedanken darüber gemacht, wie es in Deutschland 2004 aussieht, und so sieht es ja auch aus.
Nun geht es darum, die Deutschen einerseits glauben zu machen, daß sie (wir sind schließlich eine Demokratie!) in "alle Entscheidungen eingebunden sind", um gleichzeitig dafür zu sorgen, daß sie auf gar keinen Fall dazwischenfunken. Das funktioniert am besten per geschickter Rollenverteilung. Schröder macht den Buhmann. Das hat er bei Hartz gelernt. Das kann er. Die FDP spielt den "Bedenkenträger" für die Unentschlossenen, deren Verstand zwar gegen, deren liberales, weltoffenes Bewußtsein jedoch für die Türkei-Aufnahme ist. Die FDP bedient beides: Nach einem Machtwechsel 2006 würden die Liberalen die Aufnahme der Türkei selbstverständlich weiter voranbringen, kündigt Guido Wes-terwelle an. Bis dahin aber ist man eher dagegen. Paßt.
Die CDU sammelt derweil den Volkszorn und ruft: "Niemals!" Unions-Außenpolitiker Pflüger ölt allerdings vorsorglich die Scharniere der Hintertüren. Was eine schwarz-gelbe Koalition nach 2006 mache, sei "Spekulation", behauptet er. Ist es natürlich nicht, wie uns der selbe Pflüger gleich darauf wissen läßt: Wichtiger als jene "Spekulation" sei es nämlich, ob es fair sei, mit der Türkei zehn oder 15 Jahre lang zu verhandeln, um ihr dann "die Tür vor der Nase zuzuschlagen". Auf deutsch: Schwarz-Gelb würde die erfolgreiche Aufnahmepolitik von Rot-Grün konsequent fortsetzen. Und nicht nur das: Die CDU würde diese Politik wahrscheinlich sogar weit sicherer ins Ziel führen als die rotgrünen Halodris. Pflüger meint mit der Gefahr des "Türzuschlagens" vor allem das "mehr als wahrscheinliche" (negative) Ergebnis einer Volksabstimmung, mit der die Rotgrünen leichtfertig hantieren und die er, Pflüger, daher unbedingt verhindern will.
Kaum zu übersehen, daß die CDU den schwierigsten Part in dem Stück übernommen hat. Das ungehobelte Publikum geht jedoch nicht mit. Die Umfragewerte der Union schmieren ab. Unvorsichtige Demoskopen, die von der Magie der Worte nichts verstehen, besangen monatelang den "kometenhaften" Aufstieg der CDU bei den Umfragen - sie haben übersehen, daß Kometen die Eigenschaften besitzen, entweder zu verglühen oder ihr Ziel um Millionen von Kilometern zu verfehlen. Der CDU scheint derzeit beides auf einmal zu gelingen.
Grün müßte man sein statt schwarz, mögen CDUler da schnauben. Denen wird jeder Schwenk verziehen, weshalb sie nicht gezwungen sind, alle erdenklichen Positionen gleichzeitig zu vertreten wie die Union, um Schwenks im Vorwege zu vermeiden. Am Sonntag noch hielten die Grünen daran fest, daß deutsche Militärgüter nicht in Krisengebiete geliefert werden, sondern nur an solche Länder, die sie garantiert nicht benötigen. Deshalb verfügen wir Deutschen über ein so reines Gewissen und unsere Rüstungsindustrie über Auftragsbücher so federleicht wie das sprichwörtliche britische Kochbuch. Damit das so bleibt, lehnte der Grünen-Parteitag am Wochenende die Lieferung deutscher Fuchs-Panzer an die Irakis strikt ab. Tags da-rauf kassierten die neuen Vorsitzenden, Reinhard Bütikofer und Claudia Roth, den Beschluß und gaben olivgrünes Licht für den Export. Gleichwohl nähmen sie den Parteibeschluß ernst, beteuern sie, zeige er doch, wie wichtig es sei, daß keine Rüstungsgüter in Kriegs- oder Krisengebiete geliefert werden. Bei denen kann Rumsfeld noch was lernen.
"Da aber erhob sich eine neue Stimme und warnte vor Veränderung!"
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