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Generäle Winter und Ramadan kommen

 
     
 
Die Bilanz ist ernüchternd. Auch Wochen nach dem Beginn der Luftschläge gegen Afghanistan ist eine deutliche Schwächung des Taliban-Regimes nicht abzusehen und eine Ergreifung des Terroristenführers Osama bin Laden noch nicht erfolgt. Die militärische Infrastruktur dürfte mittlerweile zerstört sein. Zu präzise sind die Marschflugkörper und Bomben, die auf die Ziele abgefeuert werden. Die Taliban haben diesem Arsenal nur wenig entgegenzusetzen. Ihre Luftabwehr ist schwach, und mit Fliegerabwehrhandwaffen ist gegen Raketen, schnelle Kampfjets und gepanzerte Hubschrauber kaum ein Abschuß zu erzielen. So also kehren die Bomben und Raketen die Trümmer, die die Sowjetarmee
und der jahrzehntelange Bürgerkrieg in Afghanistan hinterlassen haben, von oben nach unten. Die Streitkräfte der Taliban aber sind geordnet wie zuvor. Auch wenn sie schwere Schäden an ihren Radaranlagen, Flugplätzen und technischem Gerät einräumen müssen. Die Kommandeure stehen fest zur Regierung in Kabul und sind zum Kampf entschlossen. Ihre Stellungen sind trotz der Angriffe noch lange nicht sturmreif. Und Osama bin Laden, dem die ganze Militäroperation gilt, hält sich vermutlich weiter in den Bergen im Innern Afghanistans versteckt. Das Gebirge ist mit Höhlen durchzogen und so gut wie uneinnehmbar. Hier könnte er sich noch jahrelang halten. Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister, hat den Nachteil reiner Luftoperationen schon früh erkannt und für diesen Fall den Einsatz von Bodentruppen geplant. Flugzeuge könnten eben nicht auf dem Boden herumkriechen und Kampfstände ausräuchern und Erdhöhlen durchsuchen. Die US-Regierung und ihre Verbündeten stehen also vor einem Dilemma. Einerseits haben ihre bisherigen Operationen nicht den gewünschten Erfolg gebracht, andererseits ist der Krieg am Boden mit großen Risiken verbunden. Dennoch werden sie nicht umhinkommen, Bodentruppen einzusetzen. Schon sind Kommandotruppen, Verbindungsstäbe zur Nordallianz und Vorkommandos im Land. Sie bereiten nach Ansicht von Militäranalysten den Einsatz einer Streitmacht vor.

Bisher allerdings ist das Land seinen Invasoren noch immer zum Verhängnis geworden. Denn die Bergwüsten haben sich für alle, die Afghanistan erobern wollten, als extrem schwieriges Terrain erwiesen. Schon Arthur Wellington, einer der Sieger der Schlacht von Waterloo, hatte erkannt, warum die Weltmacht Großbritannien daran scheiterte, Afghanistan einzunehmen. Er brachte das Problem auf den Punkt: „Große Armeen können sich in Afghanistan nicht entfalten, und kleine Armeen haben keine Chance.“ Diese Lehre sah eine andere Weltmacht, die Sowjetunion, noch 150 Jahre später auf blutige Weise bestätigt. Die Verteidiger setzen bei ihrer Kriegskunst auf zwei Faktoren, den menschlichen und den geographischen. Diese Kombination aus erfahrenen und fanatischen Guerillakriegern, die sich durch den Tod den Eintritt ins Paradies erhoffen, und dem unwegsamen Gelände macht die Lage für motorisierte Armeen verhängnisvoll. Die Verteidiger bleiben unsichtbar. Sie sind den Invasoren ständig einen Schritt voraus und schlagen nur dann überraschend zu, wenn die Lage günstig für sie ist. Sie sind genügsam, leben im und aus dem Gelände und kennen sich im Land aus. Die Taliban versuchen jetzt, diese Lehren der Geschichte vom langen Kampf gegen alle Eroberer propagandistisch zu nutzen. Ihre Warnung ist deutlich: Im 19. Jahrhundert haben Afghanen Briten gedemütigt, im 20. Jahrhundert die Sowjets, und im 21. Jahrhundert sind die Amerikaner dran.

Dies ist keine leere Drohung. Auch wenn die militärische Infrastruktur und ihre Waffensysteme zerstört sind, bleiben die Taliban nicht wehrlos. Afghanistan ist randvoll mit Infanteriewaffen, zumeist eine Hinterlassenschaft der Sowjetarmee. Jeder Schritt wäre für die Eindringlinge gefährlich. Diese Situation würde durch den nahen Wintereinbruch noch dramatischer. Denn der Winter in Afghanistan ist lang und sehr hart. Dann wäre das Land unpassierbar, als Gefechtsfeld „ein Alptraum“, wie sich ein britischer Militärberater an seinen Einsatz bei den Mudschahedin Ende 1979 erinnert. Infanteristische Kräfte ohne Winterkampfausbildung hätten kaum eine Chance.

Je näher der Ramadan, der heilige Monat des Islam, der Mitte November beginnt, rückt, desto mehr geraten die USA unter Druck. Denn Pakistan und andere islamische Staaten fordern für diese Zeit eine Feuerpause. Während des Fastenmonats, an dem sich die Muslime mit den Armen und Hungernden in Askese solidarisieren, sind tagsüber jeglicher leibliche Genuß und körperliche Leistungen untersagt. Es darf also auch nicht gekämpft werden. Nach dem Ramadan aber wäre in Afghanistan bereits tiefster Winter. So riskieren die USA, entweder ihre islamischen Verbündeten oder aber wertvolle Zeit zu verlieren. Ein Vertrauensverlust in der islamischen Welt wäre für die USA möglicherweise schwerwiegender als eine Verschiebung der Bodenoffensive auf das Frühjahr. Schon jetzt verzeichnen die Taliban großen Zulauf von „heiligen Kriegern“ aus Pakistan und anderen islamischen Ländern. Sollten diese Länder wegen der Verletzung des Ramadan in die Arme der Taliban getrieben werden, hätte dies verheerende politische und strategische Folgen für die USA und ihre Verbündeten. Rumsfeld verweist darauf, daß Muslime selbst während des Ramadan Kriege geführt hätten. Aber wenn zwei das gleiche tun, ist es bekanntlich noch lange nicht dasselbe. Georg W. Bush und seine Soldaten werden sich offenbar im doppelten Wortsinn warm anziehen müssen. Jan Heitmann

 
     
     
 
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