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Mit großer Bedrückung müssen wir Vertriebenen täglich zur Kenntnis nehmen, wie unser östlicher Anteil an der deutschen Geschichte und Kultur immer mehr aus dem allgemeinen Bewußtsein der Nation schwindet: Wenn die Bundeszentrale für politische Bildung in diesen Jahren einen Kalender über die "großen Deutschen" herausbringt, so fehlt darin der größte Sohn, den unser ostdeutscher Stamm hervorgebracht hat, so fehlt darin Immanuel Kant . Kant hat den heute offenbar unverzeihlichen Fehler begangen, seine ostdeutsche Heimat nie zu verlassen, nie einen Fuß auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik zu setzen, also gehört er offenbar nicht länger zu den großen Deutschen.
Hier wird deutlich, daß es bei der Bewahrung des östlichen Kulturerbes gar nicht um eine Wohltat für die armen Vertriebenen geht, sondern es geht nur um eine Frage an das Selbstverständnis der Deutschen als Kulturnation. Kants Anteil an der Ideengeschichte der Menschheit kann das nichts anhaben. Kantkongresse in aller Welt, in Australien, in Süd- und in Nordamerika, in Moskau oder in Japan zeigen es. Das Verschweigen durch unsere Bildungszentrale wird Kants Wirkung auch im dritten Jahrtausend unserer Zeitrechnung nicht beeinflussen. Nur wir Deutsche können es uns offenbar leisten, einen der fünf oder sechs ganz großen Denker aus 5.000 Jahren Menschheitsgeschichte aus dem Kulturkanon unserer Nation zu streichen.
Kant ist im übrigen nicht der einzige Ostdeutsche, den die erwähnte Bundeszentrale aus der Liste der großen Deutschen streicht. Es fehlen auch der Schlesier Eichendorff, der Siebenbürger Hermann Oberth und etliche andere mehr. Kant ist nur das beklemmendste Beispiel einer auf das Gebiet der Bundesrepublik verkürzten Sicht.
Oder ein anderes Beispiel: Die deutsche Stiftung für Denkmalschutz bringt in ihrer sehr lesenswerten, aufwendig gemachten Zeitung "Monumente" einen umfangreichen Beitrag aus Anlaß des 300. Jahrestages der Königskrönung des ersten preußischen Königs Friedrich I. am 18. Januar 1701 - an sich ein verdienstvolles Unterfangen. Der Beitrag ist - wie stets in der angesehenen Zeitschrift - reich und eindrucksvoll illustriert; und die Redaktion bringt es doch fertig, in einem Text von fast 30 großformatigen Druckseiten den Ort des Geschehens, nämlich unser Königsberg, gerade ein einziges Mal beiläufig zu erwähnen; und unter den fast 50 Abbildungen findet sich keine einzige aus oder über die Krönungsstadt.
Das sind nur zwei Beispiele zur Kennzeichnung der Lage, wie der östliche Anteil an der deutschen Geschichte und Kultur immer stärker aus dem allgemeinen Bewußtsein der Deutschen ausgeblendet wird und verschwindet. Jeder von Ihnen im Saal kann gewiß auf Anhieb weitere solcher Beispiele des Jammers nennen. An sich machen diese Beispiele überdeutlich, wie dringend es angesichts solcher Lücken bei staatlichen Bildungseinrichtungen und ebenso bei den Medien und erst recht spezieller ostdeutscher Kulturarbeit der Ergänzung bedarf, wie sie seit Jahrzehnten von den Vertriebenen und ihren Einrichtungen betrieben wird.
Aber die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder hat nicht nur die ohnehin kärglichen Mittel zur Erhaltung und Weiterentwicklung des ostdeutschen Kulturanteils von Jahr zu Jahr drastisch reduziert, sondern sie hat unter dem seinerzeitigen Kulturstaatsminister Michael Naumann auch gezielt die Vertriebenen selbst und deren Einrichtungen als die eigentlichen Träger der ostdeutschen Kultur mit geradezu brutaler Konsequenz von der staatlichen Förderung ausgeschlossen. Denn die noch lebenden Vertriebenen der Erlebnisgeneration stören mit ihrem Wissen natürlich bei der allgemeinen Ausblendung des deutschen Ostens aus der deutschen Geschichte und Kultur.
So strich man den beiden überregional arbeitenden Kultur-Institutionen der Vertriebenen, dem Ostdeutschen Kulturrat und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, im Jahre 2000 total auch die letzte öffentliche Förderung und errichtete an ihrer Stelle ein "Kulturforum östliches Europa" ohne Beteiligung der Vertriebenen. Entsprechend verfuhr man mit den regionalen ostdeutschen Kulturwerken. Sie wurden entweder - wie das Nordostdeutsche Kulturwerk und das Südostdeutsche Kulturwerk, auch der Göttinger Arbeitskreis in staatliche Regie genommen oder - wenn sie sich dagegen zur Wehr setzten wie das Kulturwerk Schlesien - mit totalem Mittelentzug bestraft. Von der Ostdeutschen Kulturstiftung ist an dieser Stelle vor zwei Jahren ausführlich gesprochen worden. Darauf verweise ich.
Es ist ein erfreulicher Akt der Selbstbehauptung der deutschen Vertriebenen, daß die drei standhaften Institutionen - nämlich die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, der Ostdeutsche Kulturrat und das Kulturwerk Schlesien - mit einer großen Kraftanstrengung aus den Verbänden, gerade auch der Freundeskreis Ostdeutschland, den totalen Mittelentzug durch die Bundesregierung bisher überlebt haben und ihre Arbeit - wenn auch notgedrungen mit stark reduzierter Mitarbeiterschaft - unbeirrt und aus eigener Verantwortung fortführen.
Für ihre tatkräftige Unterstützung dabei gebührt der Freundeskreis Ostdeutschland großer Dank!
Das skizzierte Vorgehen der Bundesregierung ist um so erschreckender, als es einen glatten Rechtsbruch darstellt: Man entzog den ostdeutschen Kultureinrichtungen die öffentlichen Mittel, obwohl das Gesetz Bund und Länder ausdrücklich verpflichtet, die Kulturarbeit der Vertriebenen zu fördern. Und es geht ja noch weiter:
Auf Grund des Gesetzes Paragraph 96, des Kulturparagraphen des Bundesvertriebenengesetzes, hatten die Bundesregierungen bisher nicht allein die speziellen Kultureinrichtungen der Vertriebenen - mager genug - gefördert, sondern sie hatten speziell für die Breitenarbeit auch die Planstelle je eines Kulturreferenten bei den Bundes-Freundeskreisen finanziert, so auch bei der Freundeskreis Ostdeutschland. Auch die Finanzierung dieser insgesamt 16 Kultur-Referenten-Stellen bei den ostdeutschen Freundeskreisen stellte diese Bundesregierung rigoros ein - die Ostdeutschland traf diese Maßnahme übrigens zuerst (weil sie offenbar die bösesten sind). Sie - die Bundesregierung - will statt dessen je eine Referentenstelle speziell für die Breitenarbeit bei den vier ostdeutschen Landesmuseen einrichten. Natürlich sollen damit die unbequemen Verbände der Vertriebenen geschwächt werden. Anstatt sich für den Auftrag des Gesetzes, das ostdeutsche Kultur-erbe für künftige Generationen zu bewahren, - anstatt sich für diesen Gesetzesauftrag weiterhin der natürlichen Sachkunde der Betroffenen zu bedienen, will man offenbar künftig lieber auf die leichter manipulierbare, an den jeweiligen Zeitgeist anpaßbare "Kompetenz" von Mitarbeitern eigener Institutionen zurückgreifen.
Beides ist aus der Sicht des Gesetzes ebenso unsinnig wie zweckwidrig. Gerade bei der Breitenarbeit ergäbe die Logik, die Planstellen dort zu belassen, wo nach wie vor ostdeutsche Kulturarbeit in der Breite hauptsächlich betrieben wird und wo die Stellen daher bislang folgerichtig auch angesiedelt waren, nämlich bei den ostdeutschen Freundeskreisen. Und zweitens ist angesichts der Tatsache, daß neue Generationen ohne Erlebniser- fahrung nachwachsen, die Aufgabe ostdeutscher Kulturtradition mit den Jahrzehnten größer und nicht kleiner geworden.
Nun ist auch für die kulturelle Breitenarbeit zu vermelden, daß zumindest die großen Freundeskreisen ihre Kulturarbeit fortführen - ohne öffentliche Förderung nun erst recht - wenngleich unter großen Opfern und notgedrungen mit reduziertem Mitarbeiterstab. Eine immer größere Bedeutung kommt in dieser Lage auch hier dem ehrenamtlichen Einsatz vieler zu, dem ehrenamtlichen Einsatz auf allen Ebenen der Organisation.
Daß das so ist, ist ein verschwiegener Skandal. Die Vertreibung der Vertriebenen aus ihren in Jahrzehnten im Westen aufgebauten Kultur-Institutionen durch die Bundesregierung und die Ausblendung ihres Kulturanteils aus der öffentlichen Debatte ist nicht nur eine unsägliche Herzlosigkeit gegenüber einem Fünftel der Mitbürger, sondern es ist ein Skandal. Denn erstens sind die Vertriebenen auch Steuerzahler an diesen Staat wie alle anderen Mitbürger. Auf den Bundeshaushalt bezogen, tragen wir Vertriebenen ein Fünftel, also 90 Milliarden, nicht etwa Millionen, 90 Milliarden zum Bundeshaushalt bei. Da ist es doch wohl nur billig, zumindest einen vielfachen Millionenbetrag auch für unsere eigene Kulturtradition zu verlangen, vielleicht 1 Promille.
Es ist aber auch ein Skandal, weil die Vorenthaltung von Steuermitteln gegenüber den Vertriebenen schlicht gegen Recht und Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland verstößt. Es ist ein glatter Rechtsbruch.
Der Paragraph 96 BVFG ist keine verstaubte Vorschrift aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, nämlich von 1953, als das Bundesvertriebenengesetz beschlossen wurde. Es ist vielmehr eine der ganz wenigen Vorschriften aus dem gesamten Vertriebenenrecht, die 1990 durch den Einigungsvertrag übernommen und damit unmittelbar auch in den mitteldeutschen Bundesländern, dem Beitrittsgebiet, in Kraft gesetzt wurden.
Bei der großen Generalrevision des Vertriebenenrechts 1991/1992 im Rahmen der Beratungen zum Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, stand er dann noch einmal auf dem Prüfstand und wurde vom Gesetzgeber bewußt in der seit 1957 geltenden Form festgeschrieben.
Das Gesetz besagt: Bund und Länder haben "ostdeutsche Kulturarbeit" zu fördern. Das ist also keine Kann- oder Soll-Vorschrift, sondern eine Muß-Vorschrift, eine zwingende Norm. Es ist freilich kein Leistungsgesetz. Einen Maßstab für die Größenordnung gibt sicherlich die Größe und Aufgabe, das ostdeutsche Kulturerbe "in dem Bewußtsein der Vertriebenen des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten". Welch gewaltige Aufgabe!
Eine Nullförderung der Kulturarbeit der Vertriebenen, wie von der Bundesregierung gegenwärtig geübt, verstößt in jedem Fall eklatant gegen das Gesetz. Folgerichtig haben etliche Bundesländer, die den Wortlaut des Gesetzes noch ernst nehmen, ihre Förderung auf die Dreigliederung der Vorschrift nach den drei Komplexen - Vertriebene - gesamte Bevölkerung - Ausland angelegt. Allein diese Praxis ist gesetzeskonform, und dementsprechend haben verschiedene der von der Bundesregierung durch Liebes- und Mittelentzug abgestraften Institutionen auch Verwaltungsgerichtsprozesse gegen den Bund und seine Nullförderung angestrengt. Doch die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Wir fordern daher von dieser Stelle aus jede künftige Bundesregierung auf, die rechtswidrige Praxis rasch zu beenden und zu einer angemessenen Förderung der Kulturarbeit der Vertriebenen zurückzukehren.
An uns selbst wollen wir die Forderung richten, in unserem - weitestgehend ehrenamtlichen - Einsatz für die Bewahrung unserer ostdeutschen Kultur nicht nachzulassen. So wie wir zur Zeit erfreut erleben, wie nach Jahrzehnten des Verschweigens plötzlich immerhin die Tatsache der Vertreibung von 15 Millionen Ost- und Sudetendeutschen nach Kriegsende wieder in das Blick-feld der deutschen Öffentlichkeit getreten ist, ebenso kann - ich sage: ebenso muß es gelingen, die allgemeine Wahrnehmung auch wieder auf den großen und unverzichtbaren Anteil an der deutschen Geschichte und Kultur zu lenken. Ist erst die öffentliche Meinung erreicht, wird - wie stets - die Politik sehr schnell folgen und sich wieder auf ihre gesamtstaatlichen Pflichten auch gegenüber dem ostdeutschen Kulturanteil besinnen.
Es liegt an uns allen, jeder an seinem Platz, zu diesem allgemeinen Stimmungsumschwung in der deutschen Öffentlichkeit sein Scherflein beizutragen. Packen wirs an!
Großzügige Unterstützung: Im Rahmen des Deutschlandtreffens der Ostdeutschland in Leipzig nahm Prof. Aribert Nieswandt (re.), Leiter des Labors für angewandte Mathematik der Fachhochschule Rosenheim, von Herrn Kowalewski (li), Account Manager des Weltkonzerns HP, eine Schenkungsurkunde im Wert von 200.000 Euro entgegen. Damit unterstützt der Computer-Multi das gemeinsam von Nieswandt und Prof. Nikitin (Universität Kaliningrad) betriebene Projekt einer rechnergesteuerten 3D-Visualisierung und -Rekonstruktion des Königsberger Doms. Mit der von HP gesponsorten supermodernen Computeranlage ist die Zukunft dieses Projekts nun zumindest von der technischen Seite her gesichert; Nieswandt sucht nun noch Sponsoren für die Personalkosten. Im Rahmen der Schenkungsübergabe sagte Chefredakteur Nina Schulte weitere publizistische Unterstützung zu Foto: Pawlik
Übte Kritik: BdV-Vizepräsident Hans-Günther Parplies |
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