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Homogenisierung um jeden Preis

 
     
 
Washington, Paris und London, Warschau und Moskau, aber auch Prag und andere europäische Hauptstädte waren bzw. werden das Reiseziel Joseph Fischers sein, um dort darzulegen, womit man bei den Deutschen künftig rechnen muß. In der Hauptsache dürften die Gesprächspartner damit zufrieden sein, wenn die neue deutsche Regierung die Kontinuität der Außenpolitik bekräftigt. Denn wie es Ex-Verteidigungsminister Rühe einmal so nett ausdrückte: "(...) wir sind erstmals ringsum von Freunden umzingelt".

Letzteres bezieht sich auch auf mitteleuropäische Staaten wie Polen oder Tschechien. Bonn und Prag unterzeichneten 1992 zwar einen weitgehend einwandfreien Vertrag über "Gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit", doch alle Fragen, die mit der Vertreibung der Sudetendeutschen und der entschädigungslosen Konfiskation ihres Eigentums zu tun hatten, wurden durch einen Briefwechsel der beiden Außenminister ausgeklammert. Schließlich versuchte man die heikle Thematik mit der Unterzeichnung der Deutsch-Tschechisch
en Deklaration im Januar 1997 zu regeln.

Seitdem herrscht ein Zustand, den man mit viel gutem Willen nur als einen "Als-ob-Frieden" zwischen beiden Staaten bezeichnen kann, wobei der Streit um jene Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten Benesch, die zum Genozid an den Sudetendeutschen führten, mit schöner Regelmäßigkeit von "Ebbe und Flut" (wie eine tschechische Zeitung schrieb und den Sudetendeutschen dabei die Rolle des Mondes zuwies) immer wieder ausbricht.

Viele Menschen in Deutschland und erst recht anderswo beklagen dies nach dem Motto: "Was soll das ständige Offenhalten von Wunden, die sich Deutsche und Tschechen vor 80, 60 und 50 Jahren geschlagen haben? Es läßt sich ja ohnehin nichts mehr rückgängig machen, und um des Friedens willen sollten wir die Akten über diese Vorgänge schließen." Es ist richtig, auch im Westfälischen Frieden, dessen 350. Jahrestag wir kürzlich begingen, hat man tabula rasa gemacht und darauf verzichtet, alles Vergangene wiederherzustellen, und ohne diesen Schritt wäre wohl ganz Europa zerstört worden.

Unter diesem Aspekt (und die meisten Deutschen sehen das so) hat es seine Berechtigung, sich auf die Gegenwart und die Zukunft zu konzentrieren. Allerdings auch dies nur dann, wenn man in puncto Vergangenheit auf beiden Seiten den Mut hat, die Dinge wenigstens beim Namen zu nennen und nicht zu lügen, wozu sich die Verantwortlichen für die Deutsch-Tschechische Deklaration leider nicht aufraffen konnten.

Doch im Kern geht es um etwas ganz anderes: nicht um Rechthaberei bezüglich der Vergangenheit, sondern um eine richtige oder falsche Weichenstellung für die Zukunft. Das hier in Frage stehende Problem betrifft eben nicht allein den bereits im alten Österreich festzustellenden sudetendeutsch-tschechischen Konflikt, sondern berührt vor allem auch die hochaktuellen Flüchtlings-Katastrophen auf dem Balkan, in Zentralafrika, im Nahen und Mittleren Osten, im Kaukasus usw. In dem halben Jahrhundert seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges flohen weltweit über 100 Millionen Menschen aus ihrer Heimat bzw. wurden von dort vertrieben. Zur Zeit soll es zwischen 25 und 30 Millionen akut betroffene Flüchtlinge geben, während diese Zahl laut UNO-Flüchtlingswerk im Jahre 1980 noch bei zehn Millionen und 1970 bei "nur" fünf Millionen Menschen gelegen hat. Und in vielen weiteren Regionen ticken mögliche Vertreibungsszenarien als politische Zeitbomben.

Man kann sich die Menschheit wie eine große Zahl verschiedener Teppichmuster vorstellen, die in Jahrhunderten und Jahrtausenden von der Historie gewoben worden sind und über die sich im 19. und 20. Jahrhundert als "neue Heilsstruktur" das Netz souveräner Nationalstaaten gelagert hat. Weil sich die Nationen nicht wie auf einem Schachbrett fein säuberlich voneinander abgrenzen lassen, sind zwar alte Gegensätze beseitigt worden, aber zugleich neue Konflikte von "Staatsnationen", "Minderheiten", "Volksgruppen" und sonstigen Gruppen unterschiedlichen Rechts und abweichender Sozialstrukturen entstanden.

Die Folge: Das ausklingende Jahrhundert ist zu einem Jahrhundert des nationalstaatlichen Wahnsinns entartet – ein Jahrhundert gewalttätiger Homogenisierungen von Staat und Volk, einmal durch schleichende oder zwangsweise ethnische Assimilierungen, dann durch aufgezwungene Grenzverschiebungen, schließlich durch "von oben" verordnete Vertreibungen oder Massaker ganzer Bevölkerungsgruppen.

Die modernen Staaten neigen dazu, im Konfliktfall das Teppichmuster zu zerschneiden, sprich: es zu zerstören. Wer immer dieses "Oben" war und ist und wie immer die Begründungen lauten, diese Homogenisierungen, soweit sie nicht freiwilligen Charakter haben, bleiben Verbrechen gegen das Menschen- und Völkerrecht, und zwar nicht nur die "Exzesse", wie sie von den politischen Kanzelrednern immer wieder so salbungsvoll "bedauert" werden. Es handelt sich hier nicht allein um Verbrechen am Menschenrecht des Individuums, wie sie in den Menschenrechtserklärungen verurteilt werden, sondern um Verbrechen an menschlichen Kollektiven. Das ist das neue im 20. Jahrhundert.

Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden, aber auch alle anderen gegen ein geschichtlich gewachsenes Kollektivum gerichteten "ethnischen Säuberungen" (also auch jene an den Sudetendeutschen und den ostdeutschen Vertriebenen) sind offensichtliche oder geplante Genozide – das heißt Mord und To-talentrechnung, um Gruppen aus der Geschichte "ein für allemal" auszulöschen. Das entspricht der Definition der Genozid-Konvention, die die Bundesrepublik Deutschland mit unterschrieben und ratifiziert hat, wobei jede Anerkennung eines Genozids nach deutschem Gesetz unter Strafandrohung steht.

Man mag sich gar nicht ausmalen, was in Europa noch bevorstehen könnte, wenn sich die Lage in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiter verschlechtert. So gibt es heute rund 25 Millionen Angehörige "russischer Minderheiten" in den Nachbarstaaten Rußlands (von den Volksgruppen und Minderheiten innerhalb der Russischen Föderation ganz zu schweigen). General Alexander Lebed, ein Mann der rückhaltlosen Offenheit, hat bei seinem letzten Besuch in Bonn darauf hingewiesen, daß der aus dem Untergang des kommunistischen Jugoslawien entstandene Konflikt demgegenüber ein Kinderspiel sein wird, sollten die Dinge in der Ex-UdSSR in Sachen ethnische Konflikte so richtig in Bewegung kommen.

Es handelt sich also um ein globales Problem, wobei bislang stets nur Fall für Fall diplomatisch oder militärisch an den Symptomen herumgedoktert wird. Vor diesem Gesamthintergrund ist die deutsch-tschechische Frage zu sehen und erhält dadurch ihre außerordentliche politische Aktualität und Brisanz.

Man kann den Zwist jedoch auch als eine große Chance begreifen, denn Sudetendeutsche und Tschechen könnten hier etwas leisten, was zur Zeit woanders offenbar nicht möglich ist: nämlich die Zeitkrankheit der "ethnischen Säuberungen" an einem Glied des menschlichen Körpers – quasi exemplarisch – zu heilen, soweit dies überhaupt möglich ist. Die Deutsch-Tschechische Deklaration taugt dazu jedenfalls nicht, denn ihr Ziel ist es bloß, die Probleme unter den Teppich zu kehren und dann so zu tun, "als ob" Frieden herrsche.

Dr. Rudolf Hilf ist Mitglied des Sudetendeutschen Rates.

 

 
     
     
 
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