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Kollektives Gedächtnis einer Landschaft

 
     
 
Zum ersten Mal in der Geschichte des Ostdeutschen Kulturpreises verleiht die Freundeskreis Ostdeutschland diese Auszeichnung an eine Institution. Zum ersten Mal also heißt es, nicht einen Menschen und sein Wirken für Ostdeutschland zu würdigen, sondern eine stattliche Reihe von ausgezeichneten Wissenschaftlern und ihre Helfer im Hintergrund. Das "Preußische Wörterbuch" konnte nur entstehen, weil Frauen und Männer, denen das heimatliche Plattdeutsch am Herzen lag, unermüdlich erzählt, geforscht, gesammelt und dokumentiert haben.

Schon 1759 gab es ein Mundartwörterbuch, das sich mit dem geographischen Raum Preußen befaßte, das "Idioticon Prussicum" von Johann George Bock. Der Professor für Poesie an der Königsberger Albertina fand Anregungen durch das schon 1743 erschienene "Hamburgische Idioticon"; erstmals aber lenkte er das Augenmerk der Sprachforscher auf den Osten des nieder-

deutschen Sprachraums. Ziel war es, einen Beitrag zu einem allgemeinen deutschen Wörterbuch zu leisten, auch versprach er sich großen Nutzen für die Weiterbildung
der deutschen Schriftsprache und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten. Aus dem Gedächtnis zeichnete Bock Ausdrücke auf, die er für typisch ostpreußisch hielt. Rund 600 Stichwörter waren es immerhin in wenigen Tagen. Nicht zuletzt wollte Bock damit auch Anregungen geben, weitere Ausdrücke zu sammeln.

26 Jahre später erschien ein weiteres Mundartwörterbuch, das "Preußische Wörterbuch" von George Ernst Sigismund Hennig. Herausgeber des Wörterbuchs war die Königliche Deutsche Gesellschaft zu Königsberg, deren Präsident Hennig 1788 wurde. Sein Wörterbuch umfaßte immerhin schon rund 3.000 Stichwörter, von denen die meisten allerdings nicht zur mundartlichen Wortschicht gehören. Das mag daran gelegen haben, daß Hennigs Gewährsleute und Mitarbeiter meist Gelehrte und (oder) Angehörige der oberen sozialen Schicht waren, nicht vom Lande stammten und die niederpreußische Mundart kaum beherrschten.

Gut 100 Jahre nach Hennig kam dann ein neues "Preußisches Wörterbuch" heraus. 1882 bis 1884 erschien in zwei Bänden die Sammlung des Königsberger Rektors der Altstädtischen Mädchenschule Hermann Karl Frischbier. Der Sohn eines Maurers war vertraut mit der niederpreußischen Mundart und mit den Sitten des Volkes. Ihm standen viele Helfer zur Seite, vor allem Kollegen aus dem Lehrerkreis, aber er wertete auch handschriftliche und gedruckte Quellen aus.

Als dann im Jahr 1911 die Preußische Akademie der Wissenschaften Walther Ziesemer beauftragte, ein Mundartwörterbuch für die beiden Provinzen Ost- und Westpreußen zu schaffen, war es dem Herausgeber ein besonderes Anliegen, "die Kontinuität deutscher Sprache im Nordosten von ihren Anfängen in der Ordenszeit bis in die Gegenwart aufzuzeigen" (Riemann). Ziesemer bemühte sich, "ein möglichst engmaschiges Aufnahmenetz über das ganze Untersuchungsgebiet zu legen", betonte Erhard Riemann, der bereits während seines Studiums mit Ziesemer am "Preußischen Wörterbuch" zusammenarbeitete, die Fragebogen verzettelte und Wortkarten zeichnete.

Wichtig war es, die geographische Verbreitung der einzelnen Mundartwörter zu erkunden, dazu benötigte man eine Vielzahl von Mitarbeitern. Unter den Lehrern auf dem Lande, die meist selbst aus Bauernfamilien stammten, fand Ziesemer diese sachkundigen Helfer und baute sich schließlich einen festen Stamm von 350 bis 400 Mitarbeitern auf. Fragebögen wurden verschickt, die dann von Studenten, die sich ebenfalls mit Mundart beschäftigten, "verzettelt" wurden. - Das heißt: Jedes Wort wurde auf Zettel übertragen und alphabetisch eingeordnet. - Andere Mitarbeiter werteten die heimatkundliche Literatur und die Bestände der preußischen Archive aus.

Von 1935 bis 1939 dann erschien der erste Band mit 13 Lieferungen im Königsberger Verlag Gräfe und Unzer; bis zum Sommer 1944 folgten neun weitere Lieferungen. Man war bis zum Stichwort "Fingernagel" gekommen. Um das handschriftliche Wörterbucharchiv - immerhin rund eine Million Zettel - vor der heranrückenden Kriegsfurie zu retten, wurde es in 122 Kisten verpackt und auf ein Gut bei Prenzlau in der Uckermark, eine Ausweichstelle der Preußischen Akademie, verlagert. Dort wurde es vollends vernichtet. Ein Jahr nach dem Tod von Walther Ziesemer, er starb 1951, entschloß sich der ehemalige Assistent am "Preußischen Wörterbuch" und nunmehrige Leiter des Deutschen Wörterbuchkartells und des Deutschen Sprachatlas, Walther Mitzka, das "Preußische Wörterbuch" neu erstehen zu lassen. 1952 betraute er mit dieser mühevollen Aufgabe den engsten Mitarbeiter Ziesemers, Erhard Riemann. Unter erschwerten Bedingungen mußte Riemann nahezu bei Null beginnen. Die gesamten Vorarbeiten mußten neu geleistet werden, Fragebogen mußten erstellt, ebenso mußte die Literatur durchgearbeitet werden. Weitaus schwieriger war es jedoch, die Menschen zu finden, die noch Mundart sprachen. Sie waren aus ihrer Heimat vertrieben worden und in alle Welt zerstreut. Viele waren gestorben.

Riemann aber ließ nicht locker. Auf Veranstaltungen der freundschaftlichen Gruppen, durch Veröffentlichungen nicht zuletzt auch im warb er eindringlich für sein Anliegen. Als die Deutsche Forschungsgemeinschaft sich 1953 bereit erklärte, das Vorhaben finanziell zu unterstützen, konnte die planmäßige Sammelarbeit beginnen. Schon 1954 zählte der Mitarbeiterstamm 376 aktive Helfer, von denen 47 alte Mitarbeiter waren. Im Laufe des ersten Arbeitsjahres wurden 50.000 Wortzettel eingeordnet, 1957 umfaßte das Archiv schon wieder 240.000 Zettel. Im selben Jahr wurde die Geschäftstelle des Wörterbuchs, die sich zunächst in Riemanns Privaträumen befand, an die Kieler Universität verlegt. 1974 dann erschien der erste Band mit dem Stichwort "Fibel".

Nach dem Tod von Erhard Riemann 1984 war zunächst Ulrich Tolksdorf verantwortlicher Herausgeber des Wörterbuchs. Der Volkskundler und Historiker war bereits seit 1966 als Bearbeiter an diesem Projekt tätig. Mit großem persönlichen Engagement baute er ein Tonarchiv ost- und westpreußischer Mundarten auf. Ihm ist es auch zu verdanken, daß sich der Anteil der Abbildungen und Karten im Wörterbuch erheblich erhöhte.

1992 übernahm Reinhard Goltz diese Aufgabe. Von 1983 bis 1985 war er Wissenschaftlicher Assistent in Kiel, bis er Redakteur am "Preußischen Wörterbuch" wurde. Während seiner Zeit als Arbeitsstellenleiter und Herausgeber für das Wörterbuch wurde der Ausbau der Datenbanken für eine weitere Nutzung des Materials sowie der Ausbau des Belegarchivs vorangetrieben. Gemeinsam mit Thomas Braun und Martin Schröder bearbeitete Goltz die Stichworte, wobei man meist auf die von Riemann erbrachte Sammlung zurückgreifen konnte. Angaben auf gut zwei Millionen Zetteln, aber auch in Büchern, sowie Tonaufnahmen mußten verwertet werden. Heute wird Reinhard Goltz die Auszeichnung stellvertretend für die vielen genannten und ungenannten

Mitarbeiter am "Preußischen Wörterbuch" entgegennehmen. Mittlerweile ist die Arbeitsstelle aufgelöst. Die Materialien lagern nun beim "Deutschen Sprachatlas" in Marburg und stehen dort Forschern aus aller Welt zur Verfügung.

Das "Preußische Wörterbuch" gilt wie alle Mundartwörterbücher als "kollektives Gedächtnis einer Landschaft", vor allem weil es nicht nur die Wörter und deren Bedeutung dokumentiert, sondern auch Einblicke gibt in den Alltag, in das dörfliche Leben sowie Anmerkungen zu Wetterregeln oder zum Aberglauben enthält.

Das ostdeutsche Platt ist als lebendige Sprache am Verklingen. Um so wichtiger ist eine wissenschaftliche Dokumentation, die diese niederdeutsche Mundart als unverzichtbaren Teil der deutschen Kultur aufzeigt. Die Freundeskreis Ostdeutschland verleiht den Kulturpreis für Wissenschaft an das "Preußische Wörterbuch" in Anerkennung der jahrzehntelangen Arbeit für Mundart und Brauchtum Ostdeutschlands.

Feierliche Verleihung: Reinhard Goltz (links) nahm stellvertretend für die vielen Mitarbeiter am "Preußischen Wörterbuch" den Kulturpreis auf dem Deutschlandtreffen der Ostdeutschland in Berlin aus der Hand des Sprechers der Freundeskreis Ostdeutschland, Erika Steinbach, entgegen.
 
     
     
 
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