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Alle Welt kannte ihn", schrieb Henrich Steffens, Schwiegersohn des Komponisten und Kapellmeisters Johann Friedrich Reichardt. "Jeder, den ich traf, war irgend einmal auf irgendeine Weise mit ihm in Verbindung gewesen. Fast alle Männer von Bedeutung in ganz Deutschland, Männer von der verschiedensten Art, waren zu irgendeiner Zeit seine Freunde gewesen ... Kein ausgezeichneter Mann in Deutschland kam nach Halle, ohne ihn zu besuchen ..." Friedrich Schiller hingegen, der leicht reizbare Schwabe, war von dem unbequemen Ostdeutschland nicht sonderlich begeistert. Er klagte 1789 nach einem Besuch bei dem gemeinsamen Freund Goethe: "Noch ein Fremder ist hier, aber ein unerträglicher ... Einen impertinentern Menschen findet man schwerlich. Der Himmel hat mich ihm auch in den Weg geführt, und ich habe seine Bekanntschaft ausstehen müssen. Kein Papier im Zimmer ist vor ihm sicher. Er mischt sich in alles, und wie ich höre, muß man sehr gegen ihn mit Worten auf der Hut seyn ..."
So sehr sich auch die Geister schieden in der Beurteilung Reichardts, so wenig zweifelt man heute an seinen Leistungen auf dem Gebiet der Liedkomposition und der Musikkritik. Als Schriftsteller oder kritischer Rezensent wurde er zu einem "mutigen Querdenker, einem ebenso eloquenten wie detailverliebten Situationsschilderer und Chronisten, als Komponist zu einem unbequemen Neuerer", so Gabriele Busch-Salmen in einem Beitrag zu dem Buch J. F. Reichardt - J. W. Goethe Briefwechsel (Volkmar Braunbehrens, Gabriele Busch-Salmen, Walter Salmen, Hrsg., Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar. 240 Seiten, sw Abb., geb. mit farbigem Schutzumschlag, 34,90 Euro). Das Buch, das gerade rechtzeitig zum 250. Geburtstag des Königsbergers erschienen ist, untersucht anhand der erhalten gebliebenen Korrespondenz der beiden Männer, die einmal Freunde waren, sich dann aber auseinanderlebten, die Beziehungen zwischen dem Dichterfürsten und dem Komponisten, der immerhin 140 Goethe-Lieder, Balladen und "Deklamationsstücke" komponierte sowie Goethes Singspiele in Musik setzte und auch Musik zu dessen Schauspielen komponierte, und zwar in einer Art, die dem kritischen Dichter durchaus zusagte.
Das Verhältnis der beiden so verschiedenen Männer zueinander war sehr zwiespältig. Während Goethe später sagte, Reichardt sei "von der musikalischen Seite unser Freund, von der politischen unser Widersacher" gewesen, fühlte Reichardt sich auch dann noch zu dem Dichter hingezogen, als dieser sich von ihm bereits distanziert hatte: "... Ihre Frau Gemahlin giebt mir ... die Versicherung, daß bei all jener anscheinenden Kälte durchaus keine Unzufriedenheit mit mir selbst zum grunde liege, und so folg ich gerne meinem Herzen, das mich immer antreibt, Ihnen bei jeder nähern Veranlaßung meine alte ewige Verehrung und Dankbarkeit zu bezeugen. Ein Wort freundlicher Erwiderung würde mir zwar sehr wohl thun, aber auch ohne das werd ich nie aufhören Sie im dankbaren Herzen innig zu verehren", schreibt Reichardt noch am 28. Juli 1810 an Goethe, der sich im März des Jahres bei einem Besuch Reichardts hatte verleugnen lassen.
Bereits 1963 gab der Musikforscher Walter Salmen eine erste umfassende Monographie über Leben und Werk Reichardts heraus, jetzt ist sie zum 250. Geburtstag des Komponisten in zweiter Auflage und um eine aktuelle Bibliographie, ein Nachwort und zwei Abbildungen erweitert im Georg Olms Verlag, Hildes- heim, erschienen (372 Seiten, sw Abb., zahlreiche Notenbeispiele, brosch., 37,80 Euro) erschienen. Salmen würdigt Reichardt als einen "Repräsentanten und Wegweiser zugleich, dessen Eigenheiten im deutschen Musik- und Geistesleben allenthalben spürbar hervorleuchten. Die wichtigsten Strömungen und Wandlungen der Goethezeit haben ihn innerlich mitbewegt oder gar zum mitverantwortlichen Wortführer gehabt ... sein Tun und Wollen reicht vom Rokoko, Sturm und Drang, von der norddeutschen Vorklassik und Empfindsamkeit bis an die Schwelle der Hochklassik, der Romantik, ja noch des Biedermeier heran. Keine Schablone will recht auf ihn passen ..."
Wer war nun dieser Mann, der die Gemüter damals und heute so bewegte? - Geboren wurde er am 25. November 1752 als Sohn eines Stadtmusikus und geachteten Lautenlehrers in Königsberg. Er gilt als musikalisches Wunderkind. Kindheits- und Jugenderlebnisse prägten sein späteres Werk. So nahm er als Sechsjähriger während der ersten russischen Besatzung Königsbergs (1758-62) die Klänge russischer Volkslieder in sich auf, um sie später in seinen Werken zu verarbeiten; als Zehnjähriger wiederum vernimmt er durch österreichische Kriegsgefangene, die 1762 in das von den Russen noch nicht völlig geräumte Preußen überführt wurden, die Klänge Haydnscher Melodien. Eine Reise über das stürmische Kurische Haff findet ihren Niederschlag in der Komposition der Hexenchöre zu Shakespeares "Macbeth" (1787).
Bei Johann Friedrich Hartknoch (Klavier), bei Adam Veichtner (Geige) und bei Carl Gottlieb Richter (Cembalo) erhält der Junge Unterricht. Darüber hinaus hört er drei Jahre lang die Vorlesungen Kants an der Albertina. Ihm danke er "das frühe Glück, die Kunst von Anfang an aus ihrem wahren höhern Gesichtspunkte betrachtet zu haben ..." Nach der damals üblichen Bildungsreise wird er preußisch-extraordinärer Kammersekretär in Ragnit und hat sich offenbar von seiner musikalischen Laufbahn abgewandt. Doch 1773 erscheinen seine "Vermischten Musikalien", ein Jahr zuvor das Singspiel "Hänschen und Gretchen", weiter Klaviersonaten und ein Konzert für Cembalo. Zahllose Lieder, Oden und Balladen, Singspiele, Opern und Ballette, Motetten, Kantaten und Oratorien sollten in der nächsten Zeit folgen. Vor allem aber seine Lieder haben die Zeiten überdauert. Weisen wie "Wenn ich ein Vöglein wär" oder "Schlaf Kindchen schlaf" werden noch heute gesungen.
1775 wird Reichardt als Königlich preußischer Kapellmeister an den Hof Friedrichs des Großen berufen, ein Amt, das er bis 1794 innehat und währenddessen er für Berlin viel Neues auf musikalischem Gebiet einführt, so die 1773 von ihm ins Leben gerufenen Spiritual-Konzerte mit analytischen Programmen. - Als Reichardt von seinen Widersachern bei Hofe der Sympathien für die französische Revolution bezichtigt und entlassen wird, zieht er sich auf seinen Landsitz Giebichenstein bei Halle zurück. Während dieser Zeit aber bleibt er nicht untätig und widmet sich journalistischen Aufgaben und gibt Zeitschriften heraus. In seinen Texten nimmt er kein Blatt vor den Mund. Goethe und Schiller kritisieren ihn, Beethoven ist belei-digt ...
1796 wird Reichardt begnadigt und zum Salinendirektor in Halle ernannt. Auf einer Reise nach Paris 1802 entwickelt er eine unerbittliche Gegnerschaft zu Napoleon. Als Giebichenstein von den Truppen des Korsen bedrängt wird, flieht Reichardt nach Danzig. Später trifft er mit der königlichen Familie in Königsberg zusammen und flieht mit ihr gemeinsam bis nach Memel. 1807 kehrt er auf sein völlig verwüstetes Gut zurück, ist für kurze Zeit als Kapellmeister in Kassel tätig und muß feststellen, daß viele seiner Freunde ihn vergessen haben. Am 27. Juni 1814 stirbt Johann Friedrich Reichardt an den Folgen eines Magenleidens. Seine letzte Ruhestätte findet er auf dem Bartholomäusfriedhof in Halle, wo sein Grab noch heute gepflegt wird.
Der Kapellmeister dreier Preußenkönige, der 1786 zur Beisetzung Friedrichs des Großen sein wohl bedeutendstes Werk, eine Trauerkantate, schrieb, der Königin Louise Gesangsunterricht gab, der als erster nicht vom Cembalo aus dirigierte, sondern mit einem von ihm erfundenen Dirigentenstab vor dem Orchester stand, hat mit seinen Kompositionen auf nachfolgende Komponisten wie Schubert, Mendelssohn oder Brahms gewirkt. Seine Kammermusiken und Lieder werden wieder aufgeführt und auch auf Schallplatten veröffentlicht. Die Buchpublikationen zu seinem 250. Geburtstag lassen hoffen, daß der vielseitige und produktive Königsberger aus dem Dunkel des Vergessens geholt wird. Peter van Lohuizen
Johann Friedrich Reichardt: Er gilt als der "Großvater der modernen Musikkriti |
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