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Lettland auf gutem Wege: Rigas Botschafter in Bonn über die Entwicklung seiner Heimat

 
     
 
Die Auflösung einer nicht genehmigten Demonstration in Lettland hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Massenmedien auf sich gezogen. Russische und lettische Rentner hatten am 3. März in Riga gegen Preiserhöhung für Heizung und Heißwasser demonstriert. Da die Teilnehmer der Demonstration mehr als eine Stunde lang eine der wichtigsten Verkehrsstraße blockierten, war die Polizei gezwungen, die öffentliche Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Obwohl bei der Auflösung der Demonstration niemand in Gewahrsam genommen oder verletzt wurde, löste dieser Vorfall eine extrem scharfe Reaktion der Russischen Föderation
aus.

Die Auflösung der Demonstration an sich wäre des Aufhebens nicht wert gewesen. Die Aufmerksamkeit der russischen Politiker sowie der Massenmedien galt dann auch eigentlich nicht der Demonstration. Sie diente vielmehr als Anlaß, um Lettland wieder einmal der angeblichen Verletzung der Menschenrechte sowie des Minderheitenschutzes zu bezichtigen.

Um die tatsächliche Situation der Minderheitenrechte in Lettland einzuschätzen, sollte klargestellt werden, worum es sich handelt. Lettland befindet sich auf einem Kreuzweg Europas. Stets haben Angehörige verschiedener Nationalitäten auf dem Territorium Lettlands friedlich nebeneinander gelebt. Und es muß betont werden, daß zwischen diesen Völkern Toleranz herrscht. In Lettland versteht und realisiert man die Minderheitenrechte gemäß den für Europa üblichen Rechtsvorschriften. Diese Rechtsvorschriften sind in der Rahmenkonvention der nationalen Minderheiten niedergelegt. Lettland hat diese Konvention 1995 unterzeichnet. Sie bestimmt die Rechte der Personen, die zu den Minderheiten gehören:

das Recht, sich als eine Minderheit zu betrachten,

die eigene Kultur und Identität zu wahren und zu entwickeln,

Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit,

das Recht auf Gebrauch der Muttersprache vor Gericht,

Zugang zu allen Bildungsinstitutionen,

das Recht auf Gründung privater Bildungseinrichtungen,

das Recht auf Ausbildungsmöglichkeit in der Minderheitensprache,

Teilnahme am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben.

Lettland kann also als ein gutes Beispiel dafür dienen, wie die Minderheitenrechte in einem Staat mit verschiedenen nationalen Minderheiten gesichert werden. In Lettland wird das Recht der Minderheiten auf ihre Kulturautonomie durch Gesetz garantiert. Die allgemeine Ausbildung kann in acht Sprachen (Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Polnisch, Hebräisch, Estnisch, Litauisch, Roma) erfolgen. Dabei werden diese Schulen vom lettischen Staat finanziert. Obwohl der Wunsch, in lettischer Sprache ausgebildet zu werden, steigt, sind zur Zeit noch die lettischen Schüler in der Hauptstadt Riga in der Minderheit. Es muß betont werden, daß in Lettland sogar solche Schulklassen vom Staat finanziert werden, in denen nur ein oder zwei Schüler in russischer Sprache unterrichtet werden.

In Lettland gibt es mehr als 20 Kulturvereine für Minderheiten. Der Staatspräsident hat einen Beratungsrat geschaffen, um den Dialog zwischen den Minderheiten und den staatlichen Organen zu fördern. Es gibt zahlreiche Fernseh- und Rundfunksendungen in den Sprachen der Minderheiten, die entweder vom Staat oder von privaten Veranstaltern betrieben werden. Ebenso erscheinen zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften in russischer oder in einer anderen Minderheitensprache.

Bekanntlich hat die OSZE (Organisation zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) die in Lettland herrschenden Beziehungen zwischen den nationalen Minderheiten als harmonisch eingeschätzt. Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten, Max van der Stoel, hat bei seinem jüngsten Besuch in Lettland vom 31. März bis 2. April dieses Jahres erneut bestätigt, daß Lettland alle Anstrengungen unternimmt, den Konsolidierungsprozeß der in Lettland lebenden nationalen Minderheiten fortzusetzen.

Spricht man über die Situation der Minderheiten in Lettland, so muß festgestellt werden, daß es immer wieder in den Äußerungen der russischen Politiker sowie Massenmedien zur Verwechslung der Begriffe kommt. Die eigentliche Diskussion liegt nicht in den Menschenrechtsfragen, sondern im Verfahren der Einbürgerung, d. h. der Bedingungen zur Verleihung der Staatsbürgerschaft. Es geht dabei um die Einbürgerung der ca. 700 000 ehemaligen Sowjetbürger, die im Zuge der massiv durchgeführten sowjetischen Umsiedlungspolitik nach Lettland gekommen sind. Unter den Nichtbürgern sind nicht nur Einwohner russischer Nationalität, sondern auch Ukrainer, Weißrussen, Polen sowie eine kleine Anzahl von Letten.

Es muß hervorgehoben werden, daß das Recht auf Staatsbürgerschaft kein spezifisches Minderheitenrecht ist. Die Regelung des rechtlichen Status dieses Teils der Bevölkerung ist sowohl eine rechtliche als auch eine politische Frage. Sie ist nicht durch die Politik des lettischen Staates entstanden. Diese Ursachen sind auf den Hitler-Stalin-Pakt zurückzuführen, auf die darauf folgende widerrechtliche Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion und den damit verbundenen Versuch einer planmäßigen Russifizierung. Vor der Besetzung betrug der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung weit unter zehn Prozent.

Lettland hat seine Politik gegenüber der künftigen Entwicklung der Gesellschaft klar und deutlich definiert: Wir wollen eine integrierte Gesellschaft. Sie soll sich auf die Gewährleistung der Grundrechte für die gesamte Bevölkerung Lettlands stützen – ohne Ansehen von Nationalität, Geschlecht oder religiösem Bekenntnis.

Die Republik Lettland hat sich zu dieser Politik bekannt, als sie 1997 die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizierte. Seit 1995 besteht in Lettland eine unabhängige Einrichtung – das staatliche Menschenrechtsbüro. Jeder Einwohner Lettlands kann sich an dieses Büro wenden, wenn er seine Rechte beeinträchtigt sieht. Die Arbeit dieses Menschenrechtsbüros hat bereits internationale Anerkennung gefunden.

Die lettische Staatsangehörigkeit kann auf dem Wege der Einbürgerung erworben werden. Von den ca. 14 700 Personen im Alter von 16 bis 30 Jahren, die das Recht darauf haben, sind bis zum 28. Februar 1998 7224 Personen Bürger der Republik Lettland geworden. Seit Januar 1998 steigt die Zahl der Antragsteller (um ca. 25 Prozent pro Monat). Die geringe Zahl der Antragsteller (ca. 7 Prozent), die sich einbürgern lassen können, beweist, daß diese Personen von ihrem Recht nur zögernd Gebrauch machen und daß für sie die Erlangung der Staatsbürgerschaft keine Priorität darstellt.

Um die Ursachen der zögernden Einbürgerung zu klären, hat die Einbürgerungsbehörde in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen eine Untersuchung durchgeführt.

Die Ergebnisse dieser Studie wurden Mitte März 1998 veröffentlicht. Sie decken die Widersprüche im Verhalten der Nichtbürger auf: Einerseits ist der Wunsch, sich einbürgern zu lassen, schwach ausgeprägt; andererseits besteht unter den Nichtbürgern eine negative Einstellung zum Nichtbürgerstatus:

Jeder fünfte Nichtbürger (18 Prozent) will die lettische Staatsbürgerschaft nicht erwerben; 80 Prozent dieser Personen wollen überhaupt keine Staatsangehörigkeit erwerben.

Von der Gruppe der Jugendlichen, die das Recht besitzen, sich einbürgern zu lassen, möchte nur jeder vierte (27 Prozent) von diesem Recht in nächster Zeit Gebrauch machen.

Zwei Drittel dieser Personen (67 Prozent), die nach dem derzeitigen Recht noch nicht eingebürgert werden können (Personen älter als 30 Jahre), haben den Wunsch geäußert, die lettische Staatsbürgerschaft zu erlangen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind.

Zwei Drittel der Nichtbürger haben sich noch nicht darüber informiert, welche Anforderungen (Kenntnisse der lettischen Sprache und Geschichte) zur Erlangung der Staatsbürgerschaft erfüllt werden müssen. Sie haben sich nicht einmal darüber informiert, welche Unterlagen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft verlangt werden. Im April 1997 hat daher die Einbürgerungsbehörde in Zusammenarbeit mit der OSZE-Mission in Lettland eine Broschüre in lettischer und russischer Sprache herausgebracht, in der das Verfahren und die Anforderungen zur Einbürgerung sowie die wichtigsten Pflichten und Rechte eines Bürgers dargelegt sind.

83 Prozent der Bürger und 74 Prozent der Nichtbürger sind der Auffassung, daß im Alltag kein Unterschied zwischen Bürgern und Nichtbürgern besteht.

Um die Integration der Nichtbürger in die Gesellschaft zu beschleunigen, organisiert der Staat ein umfangreiches Programm. Dadurch erhalten alle Einwohner Lettlands die Möglichkeit, die Staatssprache zu erlernen. Die Beherrschung der Staatssprache soll die Konkurrenzfähigkeit der entsprechenden Personen auf dem Arbeitsmarkt steigern, ihnen die Möglichkeit eröffnen, in allen Fachrichtungen der Hochschulen erfolgreich studieren zu können, sowie zur Förderung der Einbürgerung beitragen.

Die Studie wird ihren Beitrag dazu leisten, über die Strategie der Konsolidierung unserer Gesellschaft nachzudenken. Sie hat auf die möglichen Ursachen des nur zögernd verlaufenden Einbürgerungsprozesses hingewiesen. Sie hat aber auch bestätigt, daß im alltäglichen Leben kein Unterschied zwischen Bürgern und Nichtbürgern besteht. In Lettland schreitet der Prozeß der Bildung einer einheitlichen bürgerlichen Gesellschaft voran.

 
     
     
 
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