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Minderheitenrechte -aber Autonomie?

 
     
 
Schluß: Offene Fragen zwischen Deutschen und Polen

Als einziger nationalen Minderheit in Polen ist es den Deutschen bei den vergangenen drei Wahlen gelungen, auf einer eigenen Liste zunächst sieben, zwischenzeitlich vier und derzeit noch zwei Vertreter in das polnische Abgeordnetenhaus, den Sejm, zu entsenden sowie bis 1997 einen Senator zu stellen. Kernpunkte der parlamentarischen Arbeit waren der Einsatz für ein polnisches Minderheitengesetz
und die Verankerung des Minderheitenschutzes in der 1997 in Kraft getretenen neuen polnischen Verfassung.

Heinrich Kroll, Vorsitzender der deutschen Sejm-Gruppe, wurde stellvertretender Vorsitzender des Minderheitenausschusses und übernahm am 14. Januar 1994 den Vorsitz der „Unterkommission für die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs über nationale und ethnische Minderheiten“. Daneben vertrat Helmut Pazdzior im Wahl- ausschuß, der die neue Wahlordnung und die darin enthaltene Befreiung der Minderheiten von einer der beiden Sperrklauseln ausarbeitete, die Interessen der Volksgruppen. Nach der Wahlniederlage der Minderheit im Jahr 1997, durch die sie den Status als Gruppe (Voraussetzung sind mindestens drei Parlamentarier) verlor, sind nur noch Pazdzior und Kroll Mitglieder des Sejm.

Die Arbeit an einem Minderheitengesetz sollte sich als schwierig erweisen. Hierbei war grundsätzlich die Frage zu beantworten, ob in einem eigenen Gesetz auf einmal alle die Minderheiten tangierenden Bereiche geregelt oder aber entsprechende Einzelgesetze, z. B. das Schul-, Medien- oder Versammlungsgesetz, durch minderheitenspezifische Annexe ergänzt werden. Da die Ergänzung von Einzelgesetzen von erheblichen Unsicherheiten und Zeitspannen geprägt wäre, ist es verständlich, daß sich die Organisationen aller Minderheiten Polens dezidiert für ein Minderheitengesetz ausgesprochen haben. Während des demokratischen Aufbruchs war das politische Klima für das Gesetz zunächst günstig, Premierminister Jan Olszewski sprach sich 1992 „ganz entschieden für ein solches Gesetz” aus. Je länger jedoch ein konkreter Entwurf auf sich warten ließ und der reformerische Elan der Anfangsphase erlahmte, desto kritischer wurde das Gesetzesvorhaben beurteilt. Einen drohenden Stimmungswandel deutete der Vorsitzende des Minderheitenausschusses, Piatkowski, am 20. Februar 1992 bei einem Besuch in Bonn an, als er vorhersagte, daß es „kein Minderheitengesetz geben [werde]“. Von diesem Zeitpunkt an wurde ein möglicher Verzicht auf ein Minderheitengesetz zunehmend mit Hinweisen auf eine Erwähnung der Minderheiten in der entstehenden Verfassung sowie auf nicht spezifizierte internationale Minderheitenstandards begründet. Auch die als minderheitenfreundlich geltende damalige Premierministerin Hanna Suchocka verneinte die Notwen- digkeit des Gesetzes, da die Minderheiten „eher zu viele als zu wenige Rechte“ besäßen.

Zu diesem ungünstigen Zeitpunkt, im Herbst 1993, begann der Minderheitenausschuß mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs, der Anfang 1998 in überarbeiteter Form erneut vorgelegt wurde. Der in der unter dem Vorsitz Krolls arbeitenden Unterkommission ausgearbeitete Entwurf enthält eine Definition der nationalen und ethnischen Minderheiten. Eine solche Minderheit ist „... jede Gruppe mit gesonderter Abstammung ..., die traditionell im Hoheitsgebiet des polnischen Staates wohnt, sich im Verhältnis zu den übrigen Staatsangehörigen in der Minderheit befindet, sich durch das Bestreben auszeichnet, ihre Kultur, ihre Tradition, ihre Sprache, ihre Religion und ihr nationales oder ethnisches Bewußtsein zu wahren“ (Artikel 2).

Als Mitglied des Verfassungsausschusses ist es dem deutschen Gruppenvorsitzenden Heinrich Kroll außerdem möglich gewesen, Einfluß auf die Formulierung der neuen polnischen Verfassung, die das seit 1952 geltende, nach 1989 nur vereinzelt modifizierte Grundgesetz ablöste, zu nehmen. Artikel 27 und 35 weisen nunmehr auf die Volksgruppen hin. Im Vergleich zur deutschen Sejm-Gruppe waren die Möglichkeiten des 1997 nicht wiedergewählten Senators Gerhard Bartodziej, der in zwei Legislaturperioden die Minderheit in der zweiten polnischen Kammer vertrat, weitaus begrenzter. Bartodziej schloß sich 1991 einer Gruppe von zehn Parteilosen an, die sich jedoch eher als Wirtschaftslobby verstand. Fragen des Volksgruppenschutzes konnte der Präsident des VdG hingegen verstärkt im Europarat nachgehen, wo er Mitglied der Ausschüsse für Minderheiten, Menschenrechte und - ferner - Technologie war.

In dem vom Sejm erarbeiteten Entwurf sind kaum Autonomierechte enthalten. Hingegen ist den deutschen Volksgruppen in Belgien, Südtirol und Rußland innerstaatlich Territorialautonomie eingeräumt worden. Das Vorliegen eines geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Oberschlesien führte seit 1990 verstärkt zu Forderungen, Oberschlesien in einem regionalisierten Polen zu autonomisieren. Die Führung des „Verbandes deutscher Gesellschaften“ beteiligte sich nicht lange an der Diskussion und wiederholte eine 1990 geäußerte, unkonkrete Autonomieforderung nach dem Sturz von Präsident Georg Brylka nicht mehr. Auch der frühere deutsche Senator Bartodziej bezeichnete eine solche Forderung als derzeit noch wenig zweckmäßig, da dies antideutsche Ressentiments schüre. Er überlasse es, wie er ironisch anmerkte, viel lieber polnischen Autonomiegruppen, mit denen die Deutschen auf offizieller Ebene nicht zusammenarbeiten, Schlesien aus Polen herauszulösen.

Eine dieser in Ost-Oberschlesien angesiedelten Gruppierungen, die Vereinigung der Oberschlesier (Zwiazek Górnoslazaków), strebt eine weitgehend autonome Region im polnischen Staatsverband an. Die ebenfalls einflußreiche, 1991 mit zwei Mandaten im Sejm vertretene Bewegung für Autonomie Schlesiens (Ruch Autonomii Slaski) in Rybnik betrachtet die Oberschlesier als ethnische Minderheit und strebt - im Gegensatz zur Vereinigung der Oberschlesier - die Zusammenarbeit auch mit den Deutschen an, weshalb örtliche Deutsche Freundschaftskreise, abweichend von der offiziellen Politik der Oppelner Verbandsführung, 1993 zwei Senatskandidaten der Bewegung unterstützten. Tendenzen, die Oberschlesier als „eigenes Volk“ zu betrachten, erreichten 1997 ihren Höhepunkt. Einem Verband der Bevölkerung schlesischer Nationalität in Kattowitz wurde die im Juni vorgenommene Registrierung in einem vom Kattowitzer Wojewoden Eugenius Ciszak angestrengten Revisionsverfahren im September aberkannt, weil es keine schlesische Nation gebe.

Obwohl die Reduzierung der Anzahl der Wojewodschaften auf nur noch zwölf im Juni 1998 fast durchgesetzt war, kämpfte die deutsche Minderheit verbissen weiter gegen die dabei vorgesehene Angliederung des Oppelner Bezirks an eine ost-oberschlesische Großwojewodschaft mit der Hauptstadt Kattowitz, die sich bis zu den Beskiden hätte erstrecken sollen. Ihrer Niederlage schon gewiß, stand die Volksgruppe dank eines Kompromisses zwischen Regierung und Opposition nur Wochen später als großer Gewinner da: Unter den jetzt 16 neuen Wojewodschaften bleibt Oppeln nicht nur erhalten, sondern wird sogar durch die Wiederangliederung des von Deutschen majorisierten Kreises Rosenberg (nicht aber des der Wojewodschaft Schlesien zugeordneten Ratibor) gestärkt. Zukünftig wird in Oppeln wie in anderen Bezirken Polens ein nunmehr direkt gewählter Bezirkstag (Sejmik) mit eigenem Budget, aber ohne legislative Befugnisse die regionale Entwicklungspolitik übernehmen, während die wieder eingerichteten Kreise (Powiaty) den Transmissionsriemen zu den autonomen Gemeinden darstellen. Unverändert bleibt die Kontrollfunktion des von der Zentralregierung ernannten Wojewoden.

Während die Ostdeutschland in der Wojewodschaft Ermland-Masuren (welche die historischen Grenzen Ostdeutschlands durch Abspaltung der altpolnischen Region Suwalki weitgehend wiederherstellt) nunmehr in drei Bezirken leben, was die Minderheit aber - abgesehen von organisatorischen Erleichterungen der Verbandsarbeit - weder schwächt noch stärkt, und die Reform auf die Lage der deutschen Diasporagruppen in anderen Teilen Polens keinen Einfluß gewann, lagen die Befürchtungen der Oberschlesier auf der Hand. Nach der Zersplitterung des Oppelner Schlesien 1950 und 1975 wäre der deutsche Bevölkerungsanteil bei einer Umsetzung der ursprünglichen Pläne von bisher etwa 30 auf höchstens 5 Prozent gefallen. Im Kattowitzer Sejmik wäre die Minderheit bedeutungslos geworden, während sie in Oppeln bislang die stärkste Fraktion stellte. Mit ihrem Protest waren die Deutschen nicht allein, denn das politische Establishment praktisch jeder aufzulösenden Wojewodschaft bekämpfte die Reform. Im Bezirk Oppeln stand die polnische und deutsche Bevölkerung geschlossen wie noch nie nach 1945 für ein gemeinsames politisches Ziel zusammen. Die polnische Beamtenschicht leistete in einem beispiellosen Einvernehmen mit der deutschen Minderheit Widerstand, wobei es zu einer bemerkenswerten argumentativen Rollenverteilung kam. So hob Wojewode Zembaczynski die Nachteile der Reform für die deutsche Minderheit hervor, was nicht wenige Oberschlesier als außergewöhnlich empfanden. Vertreter der Deutschen prononcierten andererseits Befürchtungen der polnischen Seite, daß das fortschrittliche, dank deutscher Hilfe entwickeltere Oppelner Gebiet mit dem maroden, reformfeindlichen ökologischen Notstandsgebiet Ost-Oberschlesien, das seinen Strukturwandel erst beginnt, fusioniert werden sollte.

Insbesondere Heinrich Kroll profilierte sich durch eine führende Rolle im deutsch-polnischen „Bürgerkomitee zur Rettung der Oppelner Region”. In der größten Unterschriftensammlung im Oppelner Schlesien seit 1989 bezeugten rund 70 000 Deutsche ihre Ablehnung der Regionalreform. Erstmals seit dem politischen Umbruch nahmen Angehörige der Minderheit an Demonstrationen in Oppeln und sogar Warschau teil. Der von Kroll geführte DFK-Bezirksverband verabschiedete am 31. Januar 1998 eine Resolution, in der die Reform empört als Fortsetzung der kommunistischen Assimilationspolitik, als Diskriminierung und Degradierung der Deutschen zu Bürgern „zweiter Klasse” verurteilt wurde. Kroll selbst drohte mehrfach mit einer Klage vor dem Gerichtshof für Menschenrechte des Europarats in Straßburg, da Eingriffe in die Bevölkerungsverhältnisse gegen das von Polen noch nicht ratifizier- te Rahmenübereinkommen zum Minderheitenschutz verstießen. Einschlägig sei auch Artikel 15 II der Verfassung gewesen, der administrative Veränderungen unter Mißachtung ethnischer und kultureller Verhältnisse untersage.

Die deutsche Minderheit hatte ein Glaubwürdigkeitsproblem, da sie die grundsätzliche Notwendigkeit der Reform nicht in Frage stellte, bei ihr aber - so dachte sie vor der glücklichen Wendung - nur verlieren konnte. Das Abstellen auf staats- und völkerrechtliche Regelungen half ihr nicht, da schließlich ganz Polen - nicht nur Oberschlesien - regionalisiert worden wäre bzw. ist. Vorwürfe, Polen hätte eine Politik der „Diskriminierung“ betrieben, waren folglich abwegig, wenn sie auch den positiven Nebeneffekt aufwiesen, die Minderheit erstmals nach 1990 politisch wieder aktiviert zu haben. Daß eine mit der Reform einhergehende Schwächung der Deutschen in keiner politischen Gruppierung bedauert worden wäre, dürfte gleichwohl unbestritten sein. Entscheidend aber war, daß die Bundesregierung die Minderheit in ihrem Protest geradezu demonstrativ nicht unterstützte und wiederholt betonte, es habe sich um eine, zudem von der Europäischen Union gewünschte, innerpolnische Angelegenheit gehandelt. Dementsprechend verursachte die Aussage von Roland Kliesow, dem deutschen Generalkonsul in Breslau, als „Privatperson [sei er] der Meinung, daß die Wojewodschaft Oppeln bestehen bleiben sollte“, in Warschau einen Eklat. Die Bundesregierung verzichtete ausdrücklich auf Interventionen zugunsten der Minderheit, wie sie z. B. Österreich bei den Auseinandersetzungen um die Autonomielösung für Südtirol und die Frage der Anbindung Südtirols an die (italienisch dominierte) Provinz Trient zeigte.

Andererseits könnte die deutsche Volksgruppe zu einer faktischen Gebietsautonomie kommen, indem sie durch Korrekturen der Grenzen der Oppelner Wojewodschaft den deutschen Bevölkerungsanteil erhöht. Ein erster Schritt wäre die Angliederung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Landgemeinden um Ratibor (Wojewodschaft Schlesien), ein zweiter die Abtretung der fast nur von Polen bewohnten Gemeinden um Brieg und Namslau an die Wojewodschaft Niederschlesien. Der deutsche Bevölkerungsanteil stiege auf über 50 Prozent, was der Volksgruppe Süd- tiroler Verhältnisse bescherte. Als bestimmender Faktor in einem „Bundesland“ hätte die Volksgruppe eine faktische Territorialautonomie erreicht; politisch schwierige Autonomieforderungen erübrigten sich. Doch einfach wäre auch dieser Weg nicht: Für Schritt I gibt es Mehrheiten im Ratiborer Land, doch für Schritt II brauchte man polnische Unterstützung. Niederschlesien müßte (wirtschaftlich) attraktiver als Oppeln erscheinen. Was der Großraum Breslau ja wohl ist.

Die Brücke als Weg in die Zukunft: Die Schienen über den Viadukt vom niederschlesischen Görlitz führt immer auch noch in Richtung Breslau

 
     
     
 
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