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Ich habe einen Neuen“, jubelt die russische Paßkontrollbeamtin am Grenzübergang Pr. Eylau ihrem Kollegen zu, als sie des neuen deutschen Reisepasses mit der Aufschrift „Europäische Union“ ansichtig wird. Nach einigen Fragen über Dauer des Aufenthaltes und die beabsichtigte Fahrtroute geht es über das historische Schlachtfeld von 1807, wo Scharnhorst in blutigem Kampf den Franzosen das erste „Unentschieden“ abrang, hinein in das Königsberger Gebiet . Ab sofort wird der Unterschied zum eben durchfahrenen polnisch verwalteten Teil Ostdeutschlands sichtbar. Straßen und Wege sind in deutlich schlechterem Zustand und die Dörfer wirken ärmlich und verfallen. In der einstigen „Kornkammer“ Ostdeutschland sind viele Felder schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten nicht bestellt und fallen so allmählich wieder der Bewaldung anheim. Fast möchte man meinen, Ostdeutschland kehrt zum Zustand vor 800 Jahren zurück.
Nur ein Wahrzeichen Ostdeutschlands, der Weißstorch, präsentiert sich zahlreich und fruchtbar wie eh und je. Fast aus jedem Nest ragen die Köpfe von ein bis zwei hungrigen Jungstörchen, die von ihren Eltern emsig versorgt werden. Storchennester markieren aber auch ziemlich oft die Stätten seit 1945 verfallener Dorfgemeinden und Weiler, denn rund ein Viertel der Dörfer Ostdeutschlands sind mittlerweile gänzlich von der Bildfläche verschwunden und werden wohl erst wieder in einigen hundert Jahren für Archäologen von Interesse sein. Sogar Städte wie Eydtkuhnen existieren als solche nicht mehr, eine Entwicklung, die seit dem Dreißigjährigen Krieg in diesem Maßstab in Europa nicht beobachtet wurde und eigentlich ein gewichtiges Argument für ein zu errichtendes „Zentrum gegen Vertreibung“ darstellen sollte.
Königsberg wirkt frisch aufgeputzt. Die Millionen, welche Präsident Putin zu diesem Zweck anläßlich des Stadtjubiläums im letzten Jahr in die Restaurierung von Baudenkmälern investieren ließ, sind gut angelegtes Geld, denn so wird einerseits nach Jahrzehnten des Verfalls endlich eine Zäsur gesetzt und andererseits die Stadt für die vielen, vor allem deutschen Touristen attraktiver. Zwar wirkt die neu erbaute russisch-orthodoxe Kirche im Zentrum etwas protzig und unpassend im Stadtbild, und die Ruine des nie fertiggestellten „Sowjetpalastes“ anstelle des abgerissenen Königsberger Schlosses wurde nun im Stil „Potemkinscher Dörfer“ aufgemotzt, doch ist bei den heutigen Bewohnern Königsbergs die Erinnerung an das alte „Kenigsberg“ durchaus präsent. Zum 750. Stadtjubiläum wurde sogar ein nach Probe durchaus wohlschmeckendes Jubiläumsbräu nach „deutschem Reinheitsgebot“ hergestellt. Fliegende Händler bieten um den restaurierten und als Kant-Museum genutzten Dom farbenfrohe Postkartenreproduktionen aus der Kaiserzeit an. Das Kant-Denkmal an der Außenmauer des Doms dient russischen Brautpaaren als weihevolle Stätte zum Niederlegen der Brautsträuße, in Analogie etwa zum Denkmal Peters des Großen in St. Petersburg. Selbst der ältere Historiker aus Moskau, welcher abends an der Hotelbar scheinbar provokativ fragte, ob man denn schon das Denkmal des „großen russischen Philosophen Kant“ aufgesucht habe, freut sich dann diebisch über die Gegenfrage, welche Werke von Kant, die dieser bekanntlich alle in fließendem Russisch verfaßt habe, er eigentlich studiert habe. Dr. Georgiev erwidert verschmitzt, daß ja „alles nur Spaß“ gewesen sei und läßt sich auf eine Diskussion über die Zukunft der russischen Exklave ein, die viele Russen schon als neuen selbständigen baltischen Staat „Prussija“ (Preußen) in Assoziation mit der Europäischen Union sehen.
Dieser Meinung scheinen auch viele der neureichen russischen „bisnessmeny“ (Geschäftsleute) aus Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Regionen zu sein, welche vorausschauend alte Villen in den Seebädern des Samlandes erwarben oder sich neue Villen, darunter durchaus architektonische Schmuckstücke, in Rauschen, Neukuhren oder Cranz errichten lassen. Abgesehen vom unzweifelhaften Erholungswert und der krisenfesten Geldanlage hoffen sie wohl so, früher oder später EU-Bürger zu werden. Ein in dieser Hinsicht immer wieder von Russen erwähntes Beispiel ist die Ehefrau des Moskauer Oberbürgermeisters, die im Königsberger Gebiet zu diesem Zwecke ein Gestüt erworben haben soll.
Trakehnen, jetzt den Namen „Jasnaja Poljana“ tragend, ist es wohl nicht. Pferde werden hier schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gezüchtet und die Wohngebäude der einstigen Gestütsangestellten werden zwar noch bewohnt, wirken aber wie alle Häuser im ländlichen Bereich ungepflegt und marode. Das Tor des 1732 gegründeten Hauptgestüts präsentiert sich hingegen schon wieder einladend und hübsch restauriert. In dem als Schule genutzten ehemaligen Dienst- und Wohngebäude des Landstallmeisters ist ein ansprechend gestaltetes Museum zur Geschichte des Gestütes untergebracht. Der Deutschlehrer der Schule erläutert hier an Hand einer Videopräsentation die Geschichte und Bedeutung von Trakehnen. Deutsch ist im Königsberger Gebiet eine oft gelehrte und anscheinend auch gern erlernte Fremdsprache, und dem Beobachter mag es mitunter scheinen, als wenn sich die Lehrer in der Bundesrepublik Deutschland von der Begeisterung ihrer russischen Kollegen anstecken lassen sollten. Solch eine engagierte Lehre der deutschen Sprache verbunden mit einer Pflege deutschen Liedgutes sollte uns bei den Zuständen an manchen bundesdeutschen Schulen, wie etwa jüngst in Berlin, eigentlich neidisch machen. An die trotz allem in der Russischen Föderation ständig präsenten innenpolitischen Probleme erinnert die Gedenktafel an der Außenseite der Schule von Trakehnen, welche einem unlängst in Tschetschenien als russischer Soldat gefallenen ehemaligen Schüler gewidmet ist.
Auf dem Rückweg läßt in Gumbinnen die städtische Architektur deutlich Assoziationen an jene Zeiten, als die Stadt ein preußisches Verwaltungszentrum darstellte, wach werden. Der einstige Sitz des Gumbinner Regierungspräsidenten, im Unterschied zu seinem Vorgängerbau „Neue Regierung“ genannt, heißt im Volksmund auf Russisch immer noch gleichlautend „novoje pravitelstvo“. Auch das Wahrzeichen der Stadt, das 1910 errichtete Elch-Denkmal von Vordermeyer, ist auf Forderung der heutigen Bewohner von Gumbinnen wieder aus dem Exil in Königsberg auf seinen angestammten Platz zurückgekehrt, während Trakehnens Wahrzeichen, das Denkmal des berühmten Deckhengstes „Tempelhüter“, sich noch immer im Moskauer Hippologischen Museum befindet. Die Gumbinner „Salzburger Kirche“ ist mit einem engagierten Pfarrer aus der Bundesrepublik Deutschland besetzt und exerziert eine ebenso umfangreiche wie dankbar empfangene religiöse und karitative Tätigkeit.
Erschreckend wirkt im Gegensatz zu Gumbinnen Insterburg. Durch umfangreiche Zerstörungen während und nach dem Krieg ist nur noch wenig alte Bausubstanz vorhanden, und wie fast überall im Königsberger Gebiet werden die erhaltenen Kirchen nach Jahrzehnten der Zweckentfremdung als russisch-orthodoxe Kirchen betrieben. Erstaunlich lebensfähig erwiesen sich hingegen die Mülltonnen mit der Aufschrift „Stadt Insterburg 1937“, die nach nunmehr fast 70 Jahren immer noch ihren Dienst tun. In einem gleichfalls erschreckend desolaten Zustand zeigt sich das Insterburger Ordensschloß. Das Schloß selbst bewohnt ein russischer Aussteiger, der nach eigener Aussage den „Geist eines Kriegers im Körper eines Künstlers“ verkörpert. In einer Nacht- und Nebelaktion hat er gegen den Willen der Stadtverwaltung einen notdürftig noch bewohnbaren Teil des Burggebäudes okkupiert, Relikte aus dem früheren Schloßmuseum wie etwa ein altes Schloßmodell zusammengetragen und fertigt nun „Kunst“ an. Aber seine „Gemälde“ wie auch die auf einem Holzbrettchen montierten Siegellackabdrücke des Amtssiegels des Königlichen Amtsgerichts Insterburg finden in Analogie zu den epischen Schilderungen seiner Entdeckungsreisen in den Schloßkellern bei Besuchern wenig Anklang. Vielleicht gelingt es diesem von seiner Mission begeisterten jungen Mann zumindest, dem weiteren Verfall und der mutwilligen Zerstörung der Überreste des Schlosses Einhalt zu gebieten.
Auf der Rückfahrt im leichten Regen und bei beginnender Abenddämmerung zeigt sich das Flußtal des Pregel in seiner ganzen Schönheit. Dazu tragen auch die allerorten noch sichtbaren baumbestandenen Alleen und Straßen bei. Leider werden die Bäume in Analogie zu den Straßenbäumen in der Bundesrepublik Deutschland wohl zukünftig ein Opfer der Motorisierung werden. Diesen „letzten Soldaten der deutschen Wehrmacht“, wie sie manche Russen spöttisch bezeichnen, fallen nämlich nicht wenige Verkehrsteilnehmer zum Opfer, wenn sie alkoholisiert beziehungsweise viel zu schnell ihr Kraftfahrzeug steuern.
Vorbei am heute unbedeutenden Dörfchen Rudau, hier errang 1370 der Deutsche Ritterorden in erbitterter Schlacht gegen ein in Ostdeutschland eingefallenes litauisches Heer seinen bedeutendsten militärischen Sieg, geht es auf die Kurische Nehrung. In der Vogelwarte in Rossitten erweist sich der Ornithologe Dr. Anatoli Schapoval als ausgesprochen „lustiger Vogel“. Mit viel von Herzen kommendem Humor erläutert er die Methoden russischer Ornithologen bei der Beobachtung des Vogelzugs. Die Zahlen der täglich beringten, gewogenen und wissenschaftlich erfaßten Vögel sind beeindruk-
kend, und auch der Eisvogel und das Rotkehlchen fallen in namhafter Anzahl an. Auf dem Rückweg in Cranz kommt es zu einem Gespräch mit einem pensionierten Oberst. Obwohl nunmehr ukrainischer Staatsbürger, ist dieser ethnische Ungar mit den Resultaten der „orangenen Revolution“ in seinem Heimatland keinesfalls zufrieden. Weitaus mehr scheint es ihm in „Ostdeutschland“ zu gefallen, dieser Name geht ihm anscheinend mühelos über die Zunge, wo er seine Ferientage bei Bekannten verbringt. Ihm dünkt es notwendig, noch stärker als bisher am Kurort-Flair von Cranz zu feilen, denn die einstige Promenade des mondänen Seebades erinnert heute mehr an eine stillgelegte Fabrikanlage, denn an eine Flaniermeile. Die Verwendung einer Jugendstilvilla in Strandnähe als „Mineralwasserfabrik“ scheint ihm ebenfalls gegen den Strich zu gehen. Eifrig fragt er die Besucher aus der Bundesrepublik nach den jetzigen Lebensverhältnissen dort aus, wobei er sich als letzter Kommandeur des einstmals in Havelberg stationierten Pontonregiments zu erkennen gibt. Sogar ihm als früheren Sowjetoffizier erscheint die derzeitige Situation des Königsberger Gebietes als weit westlich von Rußland gelegener Exklave auf Dauer als unhaltbar, und er ist sicher, daß nur im politischen Rahmen der EU das heutige Ostdeutschland eine Zukunft besitzt.
Einen letzten Eindruck aktueller Verhältnisse in Ostdeutschland bieten Palmnicken und Germau an der Westküste des Samlands. Im Zentrum der einstigen Bernsteinindustrie gelegen, bietet auch Palmnicken einen desaströsen Anblick. Der einstmals berühmte Bernsteintagebau nahe der Ostseeküste existiert nicht mehr. Der trotzdem heimlich noch geförderte Bernstein wird nach Polen und Litauen geschmuggelt und dort, in geschmackvoll verarbeiteter Form, auf den Markt geworfen. Die meisten der russischen Kunsthandwerker können sich derzeit auf diesem Gebiet nicht mit ihren Nachbarn messen.
In Germau wurden die noch vorhandenen Reste der einstigen Ordensburg bei der bis zum heutigen Tage anhaltenden Suche nach dem berühmten „Bernsteinzimmer“ weitestgehend zerstört. Dafür hat die deutsche Kriegsgräberfürsorge begonnen, in Zusammenarbeit mit entsprechenden russischen Einrichtungen in unmittelbarer Nähe der Germauer Ruinenreste einen Sammelfriedhof deutscher Kriegsgräber aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg anzulegen. Diese Bemühungen werden von der ansässigen Bevölkerung durchaus respektiert. Auf dem Gebiet der Aussöhnung werden im Königsberger Gebiet die deutschen Aktivitäten anscheinend viel mehr beachtet und geschätzt als etwa in der angrenzenden Republik Polen. Immer wieder bringen heutige Bewohner des Gebiets zum Ausdruck, daß dieses Gebiet nur mit deutscher Unterstützung eine wirtschaftliche Zukunft hat. Von den „Bürokraten“ in Moskau habe man kaum etwas zu erwarten. Auch der Besuch Präsident Putins im vergangenen Jahr scheint die Hoffnung der ansässigen Bevölkerung auf die Förderung der speziellen Interessen des Gebiets, das von nicht durchgehend wohlwollenden Nachbarn umgeben ist, keineswegs beflügelt zu haben. Immer wieder wird über die Zoll- und Polizeischikanen der Nachbarstaaten Litauen und Polen geklagt.
Vieles scheint im Königsberger Gebiet derzeit in Bewegung zu sein. Der Drang nach Veränderung bestehender Verhältnisse ist unverkennbar. Die nach 1945 ansässig gewordene Bevölkerung fühlt sich zunehmend heimisch, greift aber zugleich auch manche der alten Traditionen Ostdeutschlands auf. Erfreulich stimmt die allseits geäußerte Meinung, daß ungeachtet der einem Außenstehenden aus der Bundesrepublik Deutschland mitunter übertrieben erscheinenden Hoffnungen auf die EU nur in friedlicher Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten Litauen und Polen eine Klärung des zukünftigen Status des Königsberger Gebietes erreicht werden könne. Ob nun weiterhin als „Oblast“ oder zukünftig einmal als selbständiger Staat „Prussija“, als Ziel einer Reise für Naturliebhaber und Kulturbeflissene ist die Region mit ihrer sich allmählich entwickelnden touristischen Infrastruktur wärmstens zu empfehlen. |
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