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Nachdem das Haus der Heimat in Stuttgart bereits 1996 eine Broschüre "Angekommen! - Angenommen?: Flucht und Vertreibung 1945 bis 1995" herausgebracht hat, ist jetzt eine Lehrerhandreichung mit ähnlicher Thematik erschienen.
Die neue Veröffentlichung trägt den Titel "Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als international es Problem. Zur Geschichte eines europäischen Irrwegs". Es handelt sich um eine Auftragsarbeit des baden-württembergischen Kultusministeriums, die landesweite Beachtung und, wie zu hoffen ist, weite Verbreitung verdient - und zwar nicht nur unter Lehrern.
Die Broschüre soll "dazu dienen, den Lehrern an den Schulen im Land zu helfen, Schülerinnen und Schülern die Dimension des Themas Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges historisch fundiert und nachhaltig zu vermitteln", sagte Staatssekretär Heribert Rech bei der Vorstellung der Publikation in Stuttgart. Im Mittelpunkt stehe zwar die Flucht und Vertreibung der Deutschen, darüber hinaus werde aber aufgezeigt, daß "ethnische Säuberungen" seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein häufig gebrauchtes Instrument der europäischen Politik waren.
Das mit Bildern und teils neu erstellten Karten reich illustrierte Heft ist untergliedert in die Teile Darstellung und Perspektiven, Das Thema im Unterricht und Quellen und Materialien.
Der erste sowie der dritte Abschnitt beziehen auch die Folgen der Balkankriege von 1912/13 ein, desgleichen die Umsiedlungen der Armenier 1915, die in einen Völkermord mündeten, sowie die leidvolle Realisierung des griechisch-türkischen Umsiedlungsvertrages von Lausanne aus dem Jahr 1923.
In diesen geschichtlichen Rahmen wird dann die Vertreibung der Deutschen ab 1945 in ihrer besonderen Dimension eingeordnet. Zum Schluß geht die Broschüre außerdem auf die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan in den Jahren nach 1991 ein.
Die Handreichung bietet hervorragende Möglichkeiten für eine wirksame Vermittlung des Themas. Wie eine Darstellung im Schulunterricht im einzelnen aussehen könnte, zeigt der zweite Teil. Der dritte Teil wiederum enthält seltene Dokumente, Bilddarstellungen und gutes Kartenmaterial.
Neben Dokumenten der politischen Geschichte befinden sich unter den Quellen auch Erfahrungsberichte aus dem unmittelbaren Alltagsbereich von Betroffenen. Daher ermöglicht die Broschüre sowohl thematische Längsschnittanalysen als auch die beispielhafte Behandlung einzelner Schwerpunkte.
Die Stuttgarter Veröffentlichung macht deutlich, wie die fatale Idee der Homogenisierung, der zufolge ein Nationalstaat ethnisch nur ein Staatsvolk haben könne und dieses vollständig umfassen müsse, mittels Umsiedlung und Vertreibung die Quelle für Unrecht und unermeßliches menschliches Leid bildet. In diesen Zusammenhang fällt auch die Pervertierung des Nationalstaatsgedankens durch die Nationalsozialisten. Der Völkermord an den europäischen Juden ist in die Darstellung ebenso einbezogen wie die Verfolgung der Zigeuner. Umsiedlung sowie Flucht und Vertreibung deutscher Volksgruppen schließen sich in historischer Chronologie an.
Danach werden die Bemühungen zur Eingliederung sowohl seitens der entwurzelten ostdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen selbst wie auch der Aufnehmenden im besiegten und zerstörten Restdeutschland behandelt. Dies geschieht für Baden-Württemberg wie für das übrige Deutschland.
Die Rolle der Heimatvertriebenen und ihre Leistung in Gestalt der "Charta der Vertriebenen" von 1950 werden genauso gewürdigt wie die Bereitschaft zur Hilfe beim Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands, zur Versöhnung und zur europäischen Einigung.
Die neue Lehrerhandreichung wurde vom Haus der Heimat unter Mitwirkung von Vertretern des Kultusministeriums in Stuttgart, der Landeszentrale für politische Bildung, des Bundes der Vertriebenen, des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen und des Bonner Hauses der Geschichte erstellt.
Erschütternd sind manche Fotos, die zeigen, wie das Leid allen Flüchtlingen, Vertriebenen und Deportierten gemeinsam ist: Armeniern, Griechen, Juden und Ostdeutschen.
Sie verbildlichen jene Einsichten, die Karl Schlögel in seinem Essayband "Promenade in Jalta" zum heutigen Europa festgehalten hat: "Überall treffen wir auf Menschen, die nicht von dort stammen, wo sie heute leben. Sie tragen ihre Heimaten mit sich herum. Fast jede Gruppe hat ihr verlorenes Land: die Bulgaren ihr Mazedonien; die Serben ihr Kosovo; die Italiener Fiume; die Deutschen ihr Ostdeutschland und Schlesien; die Polen die Kresy, Wilna und Lemberg; die Ungarn Temesvár und Transsylvanien; die Türken Thrakien; die Griechen Smyrna und Konstantinopel.
Sie haben alle ihre Gedächtnisorte, die für Jahrzehnte unerreichbar waren. Man gewinnt einen Eindruck davon, daß die Heimaten im Kopf noch immer existieren, wenn man polnische Touristen auf dem Rossa-Friedhof in Wilna sieht, wo das Herz Pilsudskis bestattet ist; oder wenn man die Deutschen sieht, die Blumen an Kants Grabmal am Königsberger Dom niederlegen."
In der Stuttgarter Handreichung tragen die verschiedensten Quellen dazu bei, diese Sehnsucht und Trauer verständlich zu machen. Dabei wechseln sich historische Texte und farbige Karten ab.
Ob es sich um eine Sprachenkarte Europas vor dem Ersten Weltkrieg, Karten zu Grenzveränderungen, um Nationalitätenverhältnisse oder Abstimmungsergebnisse handelt, immer steht die Anschaulichkeit im Vordergrund. Einiges Material wird man - wie die Siedlungsgebiete der Armenier vor dem Ersten Weltkrieg und im Jahr 1926 oder die ethnischen Verhältnisse in Mazedonien 1912 und 1926 - sonst nur in Spezialwerken finden. Die Vergegenwärtigung ist wichtig und empfiehlt sich wie die Lektüre der ganzen Broschüre, die in die Hände all derer gehört, die sich mit Vertriebenenfragen beschäftigen.
Die DIN A4-Lehrerhandreichung "Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem" kann unter folgender Adresse bestellt werden: Haus der Heimat, Schloßstr. 92, 70176 Stuttgart, 92 S., Euro 5,-
Der Verfasser Prof. Dr. Rudolf Grulich ist einer der Leiter des "Arbeitskreises für Volksgruppen- und Minderheitenfragen" an der sudetendeutschen Bildungsstätte Heiligenhof . |
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