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Wer in einem Sammelband mit Gedichten Agnes Miegels blättert, stößt auf den Gedichttitel "Patrona Borussiae" und fragt sich: Wie ist es möglich, daß diese Dichterin evangelischer Konfession mit Ahnen, die um ihres protestantischen Glaubens willen aus Salzburg vertrieben wurden, ein so katholisch anmutendes Mariengedicht geschrieben hat? Wenn man weiß, daß Miegel sich intensiv mit der Geschichte des Ordenslandes Preußen beschäftigt hat, und wenn man an die Zeitsituation denkt, in der dieses Gedicht entstanden ist, nämlich die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg , dann findet sich eine plausible Erklärung.
Der Deutsche Orden, auf den Preußens Staatlichkeit zurückgeht, war seit seiner Gründung marianisch ausgerichtet. 1189 oder 1190 gründeten Kaufleute aus Lübeck und Bremen vor Akkon im Heiligen Land ein Feldspital. Der historische Hintergrund waren die Kreuzzüge, in denen versucht wurde, das verlorengegangene Jerusalem zurückzuerobern. Die damals gegründete Spitalbruderschaft trug den Namen "Brüder vom Hospital der Deutschen in Jerusalem, das der heiligen Maria geweiht ist". 1199 wurde diese Bruderschaft in einen Ritterorden umgewandelt. Der Orden stand unter dem Schutz der Jungfrau Maria. Die Ritterbrüder waren Mönche und militärische Kämpfer zugleich. Die im Mönchsgelübde geforderte "Keuschheit" verlangte Triebsublimierung, die in der Verehrung der himmlischen Herrin Maria ihren Ausdruck fand.
Als der Orden ab 1231 das heidnische Pruzzenland zu erobern und zu christianisieren begann, sollte dieses Land für die Himmelskönigin gewonnen werden. Die Namensgebung für wichtige Trutzburgen und in ihrem Schutz entstandene Städte weist auf diesen Mariendienst hin. Marienwerder und Marienburg sprechen für sich, und auch Frauenburg ist in diesem Zusammenhang zu nennen, denn "frouwe" ist der mittelhochdeutsche Begriff für Herrin.
Joseph von Eichendorff erwähnt in seiner historischen Schrift "Die Wiederherstellung des Schlosses der Deutschen Ordensritter zu Marienburg", die er als preußischer Beamter in amtlichem Auftrag verfaßt hat, die Gründungslegende von Marienburg. Dort habe "auf dem hohen Nogatufer, wo jetzt die Marienburg steht, in alter Zeit ein Kirchlein mit einem wundertätigen Muttergottesbilde gestanden; eine Sage, womit das Volksgefühl am würdigsten die Weihe des Ortes bezeichnet, von dem das Christentum, unter dem Schutz der heiligen Jungfrau, jene Wälder durchleuchten sollte". Die Marienburger Schloßkirche war berühmt wegen eines riesigen Marienbildes aus Stuck, angebracht an einer Außenmauer, nach Eichendorff "die mildeste Himmelskönigin in allen Glorien ihrer übermenschlichen Hoheit". Hier faßte Heinrich von Plauen in einer der dunkelsten Stunden der Ordensgeschichte, nach der vernichtenden Niederlage von Tannenberg (1410), den Entschluß zur Verteidigung dieses Sitzes des Ordenshochmeisters: "Gott und die heilige Jungfrau wird uns retten, aus Marienburg weiche ich nimmermehr!"
"O blonde Mutter, der dies Land gehört / Als Lehn und Eigen ...", so läßt Miegel ihr Mariengedicht beginnen. Daß Maria "blond" sein soll, ist keineswegs irritierend, gibt es doch in der mittelalterlichen deutschen Malerei zahlreiche blonde Madonnen. Und daß die Gottesmutter gemeint ist, geht aus den über das ganze Gedicht verteilten Anrufungen hervor, die auf die Lauretanische Litanei anspielen. Die häufigste Benennung Mariens lautet "Mutter", auch gesteigert zu "große Mutter". Damit bezieht Miegel auch die heidnische Mythologie mit ein: die Magna Mater der Antike, die als Kybele und als Artemis auftrat und als Mutter alles Lebens verstanden wurde.
Die Bitte "Verbirg uns unter Deines Mantels Falten ..." greift auf die Darstellung Marias als Schutzmantel-Madonna zurück. Hochgestellte Persönlichkeiten, besonders Frauen, konnten nach mittelalterlicher Auffassung Verfolgten Schutz gewähren und für sie um Gnade bitten. Wahrscheinlich kannte Miegel das beliebte Marienlied, das in den Maiandachten des Ermlands und in allen katholischen Kirchen des deutschen Sprachraums erklang, dessen Text und Melodie 1640 in Innsbruck entstanden: "Maria breit den Mantel aus, / mach Schirm und Schild für uns daraus, / laß uns darunter sicher stehn, / bis alle Stürm vorübergehn! / Patronin voller Güte, / uns allezeit behüte!"
Grund für das inbrünstige Flehen um Schutz und Hilfe in Miegels Gedicht ist die verzweifelte Zeitsituation. Tiefe Verwirrung und Zukunftsangst zeichnen das Seelenleben der Deutschen aus; die Gefahr eines Bürgerkrieges droht allerorten; die Ostdeutschland sind zusätzlich von polnischen Annexionsgelüsten bedroht. Die Bitten an Maria werden sehr konkret, wenn es etwa heißt: "Und laß uns nicht den Fremden dienstbar sein!" Der Furcht vor Uneinigkeit (in Klassenhaß und ausuferndem Parteienstreit) ist die folgende Bitte entsprungen: "Laß uns in Trotz und Torheit nicht zerfallen / So wie ein loses Reisigbund zerfällt".
Miegel geht mit diesem Gedicht weit über lutherische Marienfrömmigkeit hinaus, ihre aktualisierende Rückbesinnung auf die Patronin Preußens ist aus der tiefen nationalen Not erklärbar, die für die Ostdeutschland allein schon in dem durch Versailles aufgezwungenen Polnischen Korridor sichtbar wurde. Ob Magna Mater oder Schutzmantel-Madonna - Hilfe aus dem geistig-religiösen Bereich hätte auch die heutige deutsche Nation in ihrer Sinn- und Daseinskrise dringend nötig. |
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