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Ohne Nationen gäbe es keine Kriege

 
     
 
Gerade hatte er in der Zeitung gelesen, daß Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) deutsche Unternehmer, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern wollen, als "vaterlandslose Gesellen" kritisiert und damit denselben Ausdruck verwendet habe wie vorher schon seine Parteigenossen Schröder und Müntefering. Mag er nun recht haben oder nicht - erstaunlich bleibt, daß er, der sich bisher eher als Internationalist
hervortat und wenig Geschmack fand an Volk und Nation, jetzt die Vaterlandslosigkeit als etwas Schimpfliches brandmarkt.

Daran dachte unser Zeitgenosse, als er nun im Hörsaal der Kieler Universität saß, um dem Professor zu lauschen, der sich vorgenommen hatte, den "Dialog zwischen den Generationen über das Dritte Reich" zu fördern. Das Thema war reizvoll, zumal der Professor angekündigt hatte, er wolle einen Versuch unternehmen, "das Dritte Reich besser zu verstehen".

In vorangegangenen Vorlesungen war ungeschönt das Wüten der Sowjetsoldaten bei der Eroberung Ostdeutschlands geschildert worden, aber auch unmenschliches Verhalten vieler Polen den noch in Hinterpommern zurückgebliebenen Deutschen gegenüber. Studenten, aber auch die "Altkommilitonen", Ruheständler, die nach dem Arbeitsleben als Gast-hörer ihre historische Allgemeinbildung verbreitern wollten, waren der Vorlesung atemlos gefolgt.

Und nun wollte der Professor "die subjektiven Erinnerungen in die allgemeinen Zusammenhänge stellen, wie die Forschung sie sieht". Man erfuhr, daß die Greuel, denen die Deutschen im Osten ausgesetzt waren, verursacht worden seien durch die Verbrechen, die die Deutschen 1939/1940 bei der Vertreibung und Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus dem damals Warthegau genannten Gebiet in das Generalgouvernement sich hatten zuschulden kommen lassen. Daß in der Neuzeit Massenvertreibungen und Massenmorde als Mittel der Politik eingesetzt wurden, führte der Professor zurück auf das Entstehen von Nationen. Nationen erhielten in der Neuzeit, so erfuhren die Hörer, eine religiöse Bedeutung. Der Nationalismus lasse das Nationalbewußtsein in Gegensatz zur Humanität geraten, den Gegner zum Untermenschen denaturieren und erhöhe die in den nationalen Kriegen zu Tode Gekommenen zu Opfern für das Vaterland. Darum sei es an der Zeit, daß wir die Nation überwinden.

Der Hörer wunderte sich. Sein Professor hatte sich bislang als hervorragend informierter und betont sachlicher Historiker gezeigt. Und jetzt diese Deutung: Massengreuel als unabdingbare Konsequenz von Nationalgefühl? Nationalbewußtsein als Ursache von Krieg und Massenmord? Würde das nicht heißen, daß vor der Entwicklung der modernen Nationen paradiesische Verhältnisse auf der Welt geherrscht haben müssen? Und wenn denn diese Deutung der Ursache einer kritischen Prüfung standhält, dann bleibt es unverständlich, warum in Erdteilen, die nie zur Nationenbildung gefunden haben, etwa in Afrika, die permanenten Auseinandersetzungen zwischen Stämmen und Völkern nicht minder blutig waren.

Und warum bleibt der Professor bei der Deutung der Greuel, die Polen in Ostdeutschland unzweifelhaft verübt haben, beim Jahr 1939 stehen? War das deutsch-polnische Verhältnis etwa vorher ungetrübt? Er muß als Fachmann doch wissen, daß nach 1918 als Folge der offiziellen polnischen "Entdeutschungspolitik bis 1934 über 700.000 Volksdeutsche den polnischen Staat unfreiwillig verlassen hatten - entweder durch gesetzliche Maßnahmen oder außergesetzliche Schikane. Es kann ihm doch nicht unbekannt sein, daß sich am 15. August 1939 in Flüchtlingslagern im Deutschen Reich 70.000 in den letzten Wochen vor den polnischen Brutalitäten geflohene Volksdeutsche aufhielten, und in Lagern der Freien Stadt Danzig weitere 18.000. Die rücksichtslose polnische Nationalitätenpolitik gegen die über 30 Prozent der Bevölkerung Polens ausmachenden nationalen Minderheiten hatte übrigens auch zur Folge, daß bis 1938 insgesamt 575.000 Juden das Land verließen. Und von den zunächst spontanen, staatlich aber vorbereiteten Verfolgungen der Volksdeutschen in den ersten Kriegstagen, die mindestens 6.000 Opfer forderten, davon wird der Professor auch gehört haben. Wenn er denn eine Verfolgung aus der anderen erklärt, warum dann nicht die harten, teilweise auch unmenschlichen Maßnahmen der deutschen Seite während der Besatzungszeit mit dem Verhalten der Polen den Deutschen gegenüber im neu gegründeten polnischen Staat nach dem Ersten Weltkrieg?

Wer die Geschichte so sieht, der muß schiefe Bilder entstehen lassen. Und der klärt auch nicht wirklich die Ursachen. Was hat den Professor veranlaßt, sich selbst Scheuklappen anzulegen, um nicht das ganze Problem zu erkennen und, wenn er es erkannt hat, an die Studenten weiterzugeben?

Er empfiehlt in der Vorlesung, die unablässige Abfolge von Gewalt und Gegengewalt dadurch zu beenden, daß wir die polnischen und sowjetischen Schandtaten an unseren Landsleuten verschweigen. Politik des "großen Schwamm-Drüber" hält er für heilsam. Er ist daher auch skeptisch gegenüber dem "Zentrum gegen Vertreibungen", das er aber bezeichnenderweise "Zentrum gegen die Vertreibung" nennt, so als hätte der Bund der Vertriebenen nicht das Ziel, hier alle Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren.

Aber seine Forderung des Verschweigens erscheint irreal, werden wir doch gemahnt, uns der Untaten, die im deutschen Namen vor 60 Jahren begangen worden sind, permanent zu erinnern. Nie dürften sie vergessen werden, so hämmert man es uns ein. Nur dann sei die Gewähr dafür gegeben, daß die Deutschen sich läutern und daß dergleichen nicht wieder geschehe. Oder gilt das nur für eine Seite?

Da sitzt man nun in der Universität, lauscht den gelehrten Ausführungen eines ausgewiesenen Historikers und wundert sich. Warum grenzt der Professor seine Erkenntnisse ein? Muß er der politischen Korrektheit dieses Opfer bringen?

Und was die "Überwindung der Nation" angeht, so können wir diese nur in Deutschland grassierende Modemeinung an uns vorbeilaufen lassen. Unsere Nachbarnationen werden sie zu verhindern wissen.

 
     
     
 
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