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Es ist bekannt, daß mancher Abiturient zwischen der Theologie und dem Beruf des Soldaten schwankte, als den beiden einzigen für ihn in Betracht kommenden Möglichkeiten." Diese Worte des renommierten deutschen evangelischen Theologen Paul Althaus aus dem Jahre 1939 mögen angesichts des starken Einflusses des Pazifismus auf den deutschen Protestantismus der Gegenwart irritieren. Sie sind jedoch in keiner Weise untypisch für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg .
Auch der 1883 in Gütersloh als Sohn eines Eisenbahnbeamten geborene Ludwig Müller schwankte zwischen diesen beiden Berufen. Unter dem Einfluß der frommen Großeltern, in deren Hause er aufwuchs, entschloß er sich zum Theologiestudium. Nach einem Studium in Halle und Bonn bestand er in Münster das Examen. Wie diverse andere Amtsbrüder, die später in den wilden Anfangsjahren der NS-Zeit zu Kirchenführern aufstiegen, verstand auch er sich eher als Mann der Tat denn der Theorie und war auch seine Stärke eher die mitreißende Rede oder Predigt als die wissenschaftliche Ausarbeitung.
Seine erste Pfarrstelle hatte er in Rödinghausen bei Bünde im Westfälischen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges gelang es ihm dann, seine Liebe zur Kanzel mit jener zur Kriegsmarine zu verbinden. Er wurde Marinepfarrer. Während des Ersten Weltkrieges zeitweise Divisionspfarrer des deutschen Mittelmeergeschwaders in Konstantinopel war er nach dem Kriege als Marineoberpfarrer in Wilhelmshaven tätig.
1926 schließlich begannen seine Jahre in Ostdeutschland mit der Berufung zum Wehrkreispfarrer des Wehrkreises I mit Amtssitz in Königsberg. Die Insellage dieser Provinz, die er später als seine eigentliche Heimat bezeichnen sollte, bestärkte den Nationalprotestanten noch in seinem Nationalismus. Immerhin war die Exklave umgeben von potentiellen Feinden, die erst wenige Jahre zuvor Reichsterritorium annektiert hatten.
Wie zuvor schon in Wilhelmshaven fand er auch hier Anschluß an gleichgesinnte Vereine und Kreise wie den "Stahlhelm". Bei nationalen und militärischen Veranstaltungen war er ein gerngesehener und -gehörter Redner. Seinen wohl größten Auftritt hatte er 1927 bei der Einweihung des Tannenbergdenkmals. Während des Festgottesdienstes mit Reichspräsident Paul v. Beneckendorff und v. Hindenburg und dem Reichskanzler Wilhelm Marx sowie etwa hunderttausend anderen Teilnehmern hielt er die Ansprache, bevor Hindenburg das Wort ergriff.
Doch auch in feiner Gesellschaft wußte Müller zu wirken. Im gesellschaftlichen Umgang war er geschickt, gewandt sowie von liebenswürdigem und gewinnendem Benehmen. Hinzu kam, daß seine Ehefrau aus einem wohlhabenden Hause stammte. Dieses ermöglichte es ihm, gesellschaftlich mit den Offizieren und darüber hinaus mit anderen Kreisen in Königsberg Verbindung zu halten.
Ein Zeitzeuge aus dem Offizierkorps hat Müllers Äußerungen in jener Zeit rückblickend als "recht gewagt" klassifiziert. Insofern kann es nicht wundern, daß auch die Staatsgewalt auf ihn aufmerksam wurde. Eine Buß- und Bettagspredigt aus dem Jahre 1930 führte gar zu einer parlamentarischen Anfrage im preußischen Landtag, doch blieb diese für Müller ohne nachteilige Folgen. Wenn er in der Sozialdemokratie einflußreiche Feinde hatte, die ihm etwas ans Zeug flicken wollten, so hatte er in der Reichswehr einflußreiche Gönner, die ihre schützende Hand über ihn hielten.
Angesichts dieser Mischung aus Nationalismus, Redetalent, gewinnendem Auftreten und Beziehungen zu Reichswehr wie Gesellschaft kann es nicht verwundern, daß die NSDAP auf ihn aufmerksam wurde. Laut Müller hat er Hitler 1927 kennengelernt, als "in Ostdeutschland alle nationalen Elemente sich in" seinem "Hause sammelten". Daß Müller Hitler bei einem derartigen Treffen "aller nationalen Elemente" kennengelernt hat, ist durchaus möglich, denn die bereits beschriebene Insellage Ostdeutschlands ließ die nationale Rechte in einer Art Burgfriedensmentalität dort stärker zusammenrücken, als es im Restreich der Fall war.
Für Ludwig Müller läßt sich bestätigen, was Robert P. Ericksen in seinem Buch "Theologen unter Hitler" über die Deutschen in ihrer Gesamtheit sagt: Sie empfanden die Weimarer Republik als eine "Zeit der Krise". Und wie viele andere Christen und Konservative sehnte auch er sich nach einem Mann, der nicht nur redete, sondern dieses "Elends Herr" wurde.
1935 hat er es rückblickend wie folgt formuliert: "Wir sahen, was in Deutschland vor sich ging (
) Da habe ich mich, wie viele andere deutsche Menschen, in Sorge gefragt: wie soll das anders werden? Wo ist der Helfer? Er war schon da. Ich lernte ihn jetzt kennen.". Bereits ein Jahr zuvor hatte Müller bezeichnenderweise an Hitler nicht nur gepriesen, daß er "innerlich klar, einfach, unkompliziert" sei, sondern auch, "daß er zwar nicht viele Worte über (
) seine seelische Verfassung machte, daß er aber statt dessen handelte und sich einsetzte". Ludwig Müllers späterer hamburgischer Kollege im Bischofsamt, Franz Tügel, hat in diesem Zusammenhang sehr plastisch vom "Feuerwehrmann" im Angesicht des "Dachstuhlbrandes" gesprochen.
Im Jahre 1931 wurden Tügel am 1. Juni mit der Mitgliedsnummer 575.329 und Müller am 1. August mit der Nummer 670.992 NSDAP-Mitglieder. Diese auffallende Nähe muß kein Zufall sein. Zuvor waren nämlich zweierlei bedeutende Entwicklungen eingetreten. Zum einen hatte die NSDAP ihre bis dahin geübte Indifferenz gegenüber den Kirchen aufgegeben. Sie übernahm nunmehr in stärkerem Maße kirchliche Parolen und begann sogar, sich als legitime Vertreterin kirchlicher Interessen hinzustellen. Zum anderen wurde die Partei durch ihre Wahlerfolge nun auch für Honoratioren zunehmend gesellschaftsfähig.
Wie die meisten anderen nationalsozialistischen Pastoren hat auch Tügel Adolf Hitler nicht persönlich kennengelernt. Für sie fällt Hitlers Ausstrahlung und Charisma im persönlichen Umgang als Ursache für ihre Entscheidung für den Nationalsozialismus weg. Bei Müller hingegen ist es ganz anders. Wohl kein anderer evangelischer Geistlicher hatte mit dem Katholiken an der Spitze der NSDAP derart viel Kontakt wie er. Legendär sind die gemeinsamen Spaziergänge mit Hitler "an der einsamen samländischen Küste" in den Jahren vor der Machtergreifung.
So ist es wohl auch zu erklären, daß er und kein anderer in der NS-Zeit zum Reichsbischof und preußischen Landesbischof gewählt wurde. Dafür hat er sich aber auch in der vorausgegangenen Weimarer Zeit um Hitler und dessen Partei verdient gemacht und das seinige getan, daß es zum Wechsel von der Weimarer zur NS-Zeit überhaupt erst kommen konnte. Sein großes Verdienst aus nationalsozialistischer Sicht ist es, seine Kontakte und Beziehungen zur Reichswehr in den Dienst Hitlers gestellt und dessen Akzeptanz bei den Waffenträgern des Reiches erhöht zu haben.
Als Mittler zwischen Reichswehr und NSDAP engagierte er sich insbesondere für deren Zusammenarbeit bei dem aus Freiwilligenverbänden bestehenden preußischen Grenzschutz. Die von ihm geförderte Beteiligung von SA-Männern am Grenzschutz versprach sowohl für die Armee als auch für die Partei Vorteile. Die zahlenmäßig begrenzte Reichswehr erhielt Unterstützung bei der Sicherung der ostdeutschen Grenze und die NSDAP erhielt über die SA die Möglichkeit einer professionellen militärischen Mitgliederausbildung sowie Zugang zu Waffen und militärischer Ausrüstung.
Um die Zusammenarbeit beim Grenzschutz ging es wohl auch beim Treffen Hitlers mit dem Chef des Stabes im Wehrkreis I, Oberst Walter v. Reichenau, das Müller vermutlich Anfang April 1932 in seiner Wohnung arrangierte. Und um den Grenzschutz ging es auch beim anschließenden Briefwechsel zwischen Hitler und Reichenau, bei dem der Wehrkreispfarrer als Bote fungierte. In seinem Schreiben vom 4. Dezember 1932 an Reichenau gelang es dem Parteichef wohl, die letzten Bedenken des Stabschefs gegenüber dem Nationalsozialismus und eine nationalsozialistische Regierungsübernahme auszuräumen.
Gemeinsam mit dem Oberst gelang es Müller, den Wehrkreisbefehlshaber Königsberg und Chef Reichenaus, General Werner v. Blomberg, neben weiteren hohen Offizieren für den Nationalsozialismus und den Gedanken einer Kanzlerschaft Adolf Hitlers zu gewinnen. Er konnte Blomberg dazu bewegen, eine Zusammenkunft Hitlers mit führenden Reichswehrgenerälen zu ermöglichen.
Der Erfolg blieb nicht aus. Die Generale stellten ihre Bedenken hinsichtlich einer Beauftragung Hitlers mit der Regierungsbildung zurück und haben dieses den Reichspräsidenten wissen lassen. Blomberg, der in der letzten Januarwoche 1933 von Hindenburg empfangen wurde, tat offenbar das seinige, die letzten Bedenken des Staatsoberhauptes zu zerstreuen.
Diese Unterstützung Hitlers blieb für die Betreffenden nicht folgenlos. Nach seiner eigenen Ernennung am 30. Januar 1933 ernannte der neue Reichskanzler den ostdeutschen Wehrkreisbefehlshaber Blomberg zum Reichswehrminister, dessen Stabschef in Königsberg Reichenau zu dessen Ministeramtschef in Berlin sowie den ostdeutschen Wehrkreispfarrer Müller zu seinem Bevollmächtigten für die Fragen der Evangelischen Kirche.
Am 27. September 1933 wurde Müller als Kandidat Hitlers von der Deutschen Evangelischen Nationalsynode in das nach der Machtergreifung neugeschaffene Amt des Reichsbischofs gewählt. Bereits ein gutes Jahr später, am 25. Oktober 1934, ließ Hitler Müller auf Druck des Auslandes fallen, als dieser versuchte, nach dem Vorbild der Gleichschaltung der Reichsländer mit dem Reich die Landeskirchen mit der von ihm geführten Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) gleichzuschalten.
Nach dieser Desavouierung konnte der Reichsbischof zwar sein Amt behalten, doch seine Autorität war rettungslos verloren. Zu seinem Nachfolger als Führer der DEK machte der Reichskanzler Reichsminister Hans Kerrl. Machtlos beschränkte sich der gewesene Reichskirchenführer fortan nolens volens fast vollständig auf das Halten von Reden und Vorträgen.
Ein Vierteljahr nach Hitler starb Müller in der Reichshauptstadt, in der er ab 1933 amtiert hatte. Die nie eindeutig geklärte Todesursache ist laut dem Totenschein, seiner Ehefrau Paula Müller, seinem früheren Mitarbeiter Oberkirchenrat Walter Birnbaum, Bischof Otto Dibelius, Bischof Joachim Hossenfelder und Oberkonsistorialrat Friedrich Wieneke Herzschlag und laut dem Lordbischof von Chichester George Bell sowie Oberkonsistorialrat Heinz Brunotte, Manfred Koschorke und Wilhelm Lenkitsch Selbstmord gewesen.
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